Oktober 2003:
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Eine "kritische Theorie", die niemand mehr so richtig will

Petra Roth auf dem Weg ins Uni-Gebäude Zum 100. Geburtstag Theodor W. Adornos veranstaltete Frankfurt eine "Internationale Theodor W. Adorno-Konferenz".

"Auf frischer Tat ertappt": Sie sehen einen Schnappschuß, den BüSo-Aktivisten gemacht haben, als Frau OB Petra Roth ins Uni-Gebäude zur Adorno-Konferenz ging, wo der geneigte Zuhörer auch ihrer wohlmeinenden Rede andächtig lauschen durfte. Helmut Böttiger berichtet:

Als man vor 20 Jahren Adornos 80. Geburtstag feiern wollte, war nirgends dafür Geld aufzutreiben, klagten die Veranstalter. Das war bei der jetzt in Frankfurt abgehaltenen Konferenz anders. Die "konservative" Landesregierung, die "konservative" Oberbürgermeisterin und viele andere trugen trotz ernster Haushaltsprobleme finanziell zu ihrem Gelingen bei. Damals, vor 20 Jahren, sei, so der Veranstalter, der Geehrte noch so etwas wie das kollektive Über-Ich der Gesellschaft gewesen. Heute frage kaum noch einer nach dem Wert seiner Theorie. Seine Schriften würden in den Geisteswissenschaften kaum noch beachtet und wenig zitiert, keine Monographie von Rang sei mit anregenden Folgerungen über ihn erschienen.

Für den zahnlos gewordenen konnten es sich "Konservative" leisten, zu seinen Ehren Geld auszugeben, das sie anderswo massiv einsparen wollen. Daran wiederum stießen sich Studenten und hielten auf der Bühne hinter den Rednern ein großes Bettuch mit der Aufschrift hoch, man solle Adornos Theorie betreiben, statt den Studenten die Gelder streichen. Damit das die Redner auch störte, setzte sogleich Applaus und Pfeifen ein. Der studentischen Demonstration wurde reichlich Zeit eingeräumt, bis man, des Lärmens überdrüssig, dem Festredner das Wort erteilte und die Auftaktveranstaltung streng akademisch ihren Verlauf nehmen konnte.

Jürgen Habermas erzählte brav nach, was der große Lehrer in seiner manierierten Sprache abgehobener und extravaganter vorgetragen hatte. Es ging um ein altes, sehr wichtiges Thema der Philosophie: Freiheit und Determinismus. Wer Adorno kannte, erwartete etwas wie "Freiheit sei zugleich Determinismus" und das Ganze auch noch "zugleich" umgekehrt richtig. Und darauf lief es dann ja auch wohl hinaus. Wer die Veröffentlichung Adornos zu diesem Thema nicht kannte, fragte sich, wie der wortgewandte Meister die Kurve wohl kriegen und Schüler Habermas diese Kurve dem zahlreich erschienen Publikum verklickern würde, das begierig auf Gedankenstücke wartete, um sie in eigenen Veröffentlichungen gewinnbringend weiterzuverwerten.

In einer sich evolutionär oder revolutionär entwickelnden Welt hätte das Thema eigentlich nicht viel hergegeben. In ihr wäre der Determinismus die Betrachtung der menschlichen Verhältnisse unter dem Aspekt des jeweils eingetretenen Zustands, während Freiheit der aktiv betriebene Übergang zu einem neu zu schaffenden, besseren Zustand bedeutete. Doch war ein solcher Übergang auch möglich? War nicht, wenn er versucht wurde, dabei immer ein viel schlechterer Zustand herausgekommen? Wie läßt sich das Verhältnis von Freiheit und Determinismus in den versteinerten Verhältnissen verstehen, als die Adorno die bürokratisch zur Naturwüchsigkeit verfestigten, quasi zu einer zweiten Natur geronnenen gesellschaftlichen Verhältnisse sah? In ihnen war nach Adorno kein Raum mehr für eine vernünftige, d.h. aus der Theorie zu rechtfertigende gesellschaftliche Praxis, dafür aber um so mehr Grund zur Resignation. So hatte er lange vor Fukuyamas "Ende der Geschichte" den Werdensraum der Dialektik zu einem zeitlosen "Zugleich" verkürzt.

Adorno hat "Kant mit Darwin versöhnen" wollen - wie schon der Als-ob-Philosoph Vaihinger, nur mit weniger Bezug auf Erkenntnisse der Einzelwissenschaften, sondern philosophischer. Hatte Vaihinger die Vernünftigkeit der menschlichen Vernunft auf den vorgegebenen Naturzwang der Selbsterhaltung festgelegt, so galt es für Adorno nun, diesen engen Rahmen philosophisch zu begründen und jeden Versuch, ihn zu überwinden, im Labyrinth der Aporien verkümmern zu lassen.

Ist der Mensch wirklich "ausgeliefert"?

Freiheit - so begann der Vortrag von Habermas - werde zunächst als subjektiver Willensakt erfahren. Um diese Möglichkeit zu demonstrieren, konnte Adorno in seiner Vorlesung plötzlich ein Buch aufheben und wieder fallen lassen. Doch handelten Personen immer schon "vernünftig" und das heißt "im Fragehorizont des Warum". Die Reflexion zeige, daß der scheinbar spontane freie Vorgang so frei nicht ist. Es habe Ursachen gegeben für den Wunsch, etwas zu veranschaulichen und in Ermangelung anderer Mittel habe sich nur das vorhandene Buch angeboten. Das Subjekt, das sich den freien Willensakt zugute halte, werde von äußeren Verhältnissen bestimmt, und diese legten wiederum die inneren fest. Noch in der scheinbar freiesten Spontaneität des Subjekts komme sein Körper, seine biologische "erste Natur" zur Geltung. Die Vernunft sei - so die Philosophie nach Nietzsche - im gelebten Leben des einzelnen organisch verwurzelt.

Damit stelle sich die Frage: "Ist Vernunft mit Natur identisch (von der Natur restlos bestimmt) oder behält sie einen Raum für Freiheit?" Natur als solche trete uns erst, wenn wir handeln, als Objekt entgegen, die Beobachtung entdecke zwingende Bedingungen. In der Selbstbeobachtung verobjektiviere sich zudem noch das Subjekt und halte sich an die in der Natur vorgegebene Kausalität. Determinismus ergebe sich erst aus der Reflexion. Die tätige Vernunft verzweige sich beim zweckrationalen Handeln: Sie beuge sich den anerkannten Zwängen, um als not-wendig erkannte Zwecke zu erreichen. Aber ist das schon die ganze Vernunft, Herr Adorno?

Habermas fuhr fort, laut Adorno werde das Subjekt dann eigentlich deterministisch festgesetzt, wenn - wie heute - die Ergebnisse des zweckrationalen Handelns, d.h. unsere technische Zivilisation zur "zweiten Natur" gerönnen und der Spontaneität des einzelnen in der Gesellschaft keinen Raum mehr ließen oder - noch verhängnisvoller - ihr zur Stabilisierung des Systems eigens einen Spielraum anwiesen, so daß die zweite Natur den zweckrationalen Umgang der Gesellschaftsmitglieder noch unter das Freiheitsbewußtsein drücke. In diesem Umfeld werde "Unfreiheit im Horizont der Freiheit" erfahren, dann nämlich, wenn man sich im Rahmen der gesellschaftlichen Vorgaben gehen lassen oder austoben dürfe.

In dieser Situation baue das Kantsche Sittengesetz mit seinem Formalismus einen Widerstand gegen die zur zweiten Natur geronnenen, gesellschaftlichen Verhältnisse auf, indem es den einzelnen anhalte, sich dem gesellschaftlich verordneten, dem modischen Spaß zu entziehen.

Doch dieser Gedanke, den Kant nur negativ ausdrücken konnte und dem Adorno [und auch Habermas] nur so weit folgen wollte, als er seiner "Negativen Dialektik" genügte, bricht an dieser interessanten Stelle ab. "Wie vermag die Vernunft das?", wäre zu fragen gewesen. Sie vermag es, weil sie sich über die engen Bedingungen der Selbsterhaltung auf eine Ebene erheben kann, die, wenn sie in Gefahr gerät, sogar die physische Selbstaufopferung des einzelnen vor sich selbst rechtfertigen kann. Es ist dies die Ebene des übergreifenden Subjektseins, das erst die Natur entwirft, hervorbringt und an ihrer Vervollkommnung arbeitet - naiv ausgedrückt: die Ebene des Schöpfers. Indem der vernünftige Mensch sich in das Subjektsein der sich selbstvervollkommnenden Schöpfung hineindenkt und so, soweit es in seinen Kräften liegt, gestaltend an diesem Prozeß teilnimmt, hört er auf, der Naturwüchsigkeit seiner ersten oder zweiten Natur deterministisch ausgeliefert zu sein.

Um von diesem unerwünschten Gedankengang wegzukommen, springt Adorno an dieser Stelle in eine frühere Überlegung zurück. Danach solle dem Aufbegehren der ersten Natur (Erfordernisse der biologischen Selbsterhaltung) gegen die Vergewaltigung durch die zweite (Erfordernisse der Selbsterhaltung in der technischen Zivilisation) etwas "Emanzipatorisches" anhaften. Das zeige sich nach Adorno zum Beispiel, wenn das Individuum an den erotischen Einschränkungen, welche die zweite Natur durchsetze, zu leiden beginne. Und so hebe "die Kritik des normativen Selbstverständnisses des Subjekts durch die erste Natur den dieser unterstellten Determinismus" auf oder - noch adornoesker - die erste Natur als ursprüngliche Quelle des Determinismus werde "zugleich" die Quelle der Freiheit.

Zur bioethischen Debatte

Doch hört die Geschichte bei dieser grünen "Zurück zur Natur"-Empfehlung nicht auf. Hier beginnt vielmehr die ethische Bedeutung der Philosophie Adornos, "die im Augenblick ihres Sturzes mit Metaphysik solidarisch" bleiben will, für den aktuellen Diskurs der Bioethik. Habermas machte diesen Aspekt dafür verantwortlich, daß Adorno inzwischen wieder aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt wird. Die Biotechnologie und Genforschung versuche nämlich dieses Aufbegehren der ersten Natur wider die zweite im Bereich der ersten Natur selbst instrumentell in den Griff zu bekommen, um die empfundene Subjektivität reibungslos den gesellschaftlichen Zwecken verfügbar zu machen. Das war zwar auch ohne moderne Biotechnik schon der Fall. Verwendete man doch gerade die von Adorno gefeierte, aufbegehrende emanzipatorische Erotik zu Werbezwecken und dazu, den einzelnen reibungslos in die kulturell verordnete Spaßgesellschaft einzugliedern.

Habermas wollte nicht in Huxleys "schöner neuer Welt" enden und bemühte dazu die Hoffnung, daß die biotechnologische Forschung die mentalen Vorgänge nie erschöpfend werde erforschen und verwenden können. Der Grund: "Es läßt sich nicht alles auf Ursachen zurückführen", und die "alles unterwerfende instrumentelle Vernunft wird sich das Subjekt nicht ganz verfügbar machen", und "Die neurologische Analyse scheitert am Versagen des Sprachspiels."

Heißt das: Nur solange sich Biotechnologen über das, was sie erkennen, verständigen müssen, besteht noch Hoffnung? Die Frage war Habermas nicht zu stellen, da die Veranstaltung ohne Diskussion endete. Diese Hoffnung wäre zu mager, und Habermas ist an anderer Stelle selbst darüber hinausgegangen, wenn er empfiehlt, jeden instrumentalisierenden Zugriff auf die biologischen Grundlagen der mentalen Prozesse (z.B. das menschliche Genom) zu verbieten. Der eigentliche Grund eines solchen Verbots ist aber die Würde des Menschen, die eben in der Befähigung besteht, an der Subjektseite des Schöpfungsprozesses Anteil zu nehmen, und die durch einen solchen Zugriff nicht zerstört werden darf.

Wieviel einfacher ist dagegen die "Theorie", die von der Neuen Solidarität vertreten wird: Danach ist der immer deutlicher und schmerzhafter zutage tretende Unsinn der Gesellschaft weniger auf rationale Zwecke, sondern vielmehr auf wirtschaftliche und machtpolitische Sonderinteressen zurückzuführen. Seine Naturwüchsigkeit ergibt sich gerade nicht zwangsläufig aus der Technik, sondern weil sich die dafür verantwortlichen Sonderinteressen hinter einem Automatismus (dem Marktmechanimus) verstecken. Dieser immer deutlicher zutage tretende Unsinn wird immer mehr Menschen dazu bringen, an der "Vernünftigkeit" der zur Zeit geltenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu zweifeln. Sie werden beginnen, sich darüber zu verständigen, wie die überschäumenden produktiven Möglichkeiten der Gesellschaft (im Gegensatz zum grünen Biozeitgeist und seiner Spaßgesellschaft) möglichst "zweckrational" und "technologisch effektiv" wieder zum Wohl der Menschen und ihrer Lebensumwelt und nicht mehr nur zum Nutzen einer abgehobenen Finanzmafia einzusetzen wären.

Dazu bedarf es allerdings konkreterer Ideen und Vorstellungen und eines dementsprechend zweckrationalen Handelns. Solche Ideen bleiben einer Vernunft zugänglich, die sich über die Bedingungen der unmittelbaren Selbsterhaltung erhebt, um die Entwicklung des übergreifenden Ganzen zu verstehen. Sie kann über angeblich vorgegebene versteinerte Zustände nur lachen. Vor allem, wenn sie sieht, wie finanziell abgesicherte Professoren und Staatsbeamte - und alle, die das werden wollen - mit den Worten "Es ist alles so festgefahren, man kann ja doch nichts tun" auch noch behaupten, an solchen Zuständen zu leiden.


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