März 2005:

"Die Schüler befähigen, Technik und Arbeit mitzugestalten"

Website der Oskar-von-Miller-Schule
Alfred Behnke ist Direktor der Oskar-von-Miller-Schule, einer Berufsschule in Kassel. Renate Leffek führte am 7. Januar 2005 mit ihm das folgende Interview, das wir nun mit freundlicher Genehmigung der Zeitung Neue Solidarität veröffentlichen.

Im Bild die Internetpräsenz (Ausschnitt) der Oskar-von-Miller-Schule.

Renate Leffek


"Das Wohl der Menschheit zu fördern, ist der Sinn der Technik."
- Oskar von Miller

Behnke: Oskar von Miller ist immer noch Vorbild, er lebte ja vor nicht so langer Zeit und ist erst 1932 gestorben. Dem zitierten Satz von Oskar von Miller hat noch niemand widersprochen. Als ich ihn das erste Mal las, dachte ich: Welchen Sinn sollte Technik denn sonst haben?

Zum Glück hat auch der sogenannte Zeitgeist unterschiedliche Facetten. Deshalb hoffe ich, daß viele Menschen die Worte des Oskar von Miller, unseres Namensgebers, auch so auffassen.

Diese Persönlichkeit fand ich gleich interessant und anziehend. Das war einer, der über den Tellerrand der Technik hinaussah, ein Pionier in seinem Metier, ein Unternehmer im Sinne des Wortes.

Als zehntes Kind eines Erzgießers studierte er Wasser- und Brückenbau, arbeitete an Eisenbahnprojekten mit, organisierte Elektrizitätsausstellungen, projektierte die Stromversorgung von Städten, u.a. auch von Kassel 1890, leitete den Bau von Kraftwerken und gründete das Deutsche Museum in München. Es war sein Werk, und dahinter steckte auch eine pädagogische Absicht, nämlich breiten Schichten der Bevölkerung Technik nahezubringen. Er wollte zeigen, daß Technik auch ein Bestandteil der Kulturen ist.

Er war Ingenieur, Organisator, Visionär und Volksbildner, der den Zusammenhang zwischen Technik, Geschichte, Wirtschaft und Kultur herstellte. Einer, der Technik auch als Möglichkeit zur Gestaltung von Arbeit sah. Er befürchtete, daß Politik und Gesellschaft den Fortschritten der Technik mit den notwendigen Regelungen, z.B. zur Eindämmung der Arbeitslosigkeit, nicht folgen könnten. 1931 empfahl er dazu, die Arbeitszeit zu senken und den Verbrauch (Konsum) zu erhöhen.

Lebte er noch, dann hätte er die damals revolutionären Ideen gewiß weiterentwickelt.

Behnke: Bei uns dominiert die Berufsschule, und zwar für Elektro-, Informations-, Kfz- sowie Sanitär- und Heizungstechnik.

Ein beachtlicher Teil der Vollzeitschüler wird auf eine Berufsausbildung vorbereitet. Darüber hinaus vermitteln wir in Theorie und Praxis eine berufliche Grundbildung in E-Technik und Metalltechnik, vorwiegend in Verbindung mit dem mittleren Abschluß. Sehr wichtig für uns ist die Fachschule für Elektrotechnik und Informationstechnik, denn sie gehört zum Bereich der beruflichen Weiterbildung, aus dem wir unsererseits wichtige Impulse von den Studierenden, die aus der Praxis kommen, für die Berufsschule empfangen. Wir bilden auch zum Staatlich geprüften technischen Assistenten für Informationsverarbeitung aus.

In der Berufsschule kann man inzwischen mit zusätzlichem Unterricht nicht nur den Hauptschul- und den Realschulabschluß (mittleren Abschluss), sondern auch die Fachhochschulreife erwerben. Letzteres machen nur wenige, weil die Anforderungen in der Berufsausbildung relativ hoch sind. Unsere Schüler müssen mehr Verantwortung für ihren Lernprozess übernehmen, eine viel aktivere Rolle im Unterricht als bisher spielen.

Behnke: Unsere Schüler sind vom technischen und gesellschaftlichen Wandel natürlich besonders stark betroffen. Ihnen das klar zu machen und sie dafür zu gewinnen, sich mit Politik und deren Konzepten zu beschäftigen, damit sie sich bei Wahlen nicht gegen ihre ureigenen Interessen entscheiden, das ist Aufgabe von politischer Bildung. Dafür gibt es bei uns entsprechend ausgebildete Lehrkräfte. Ich habe z.B. in Darmstadt Elektrotechnik und Politik und Geschichte studiert, eine nicht ganz einfache, aber für den Lehrberuf fruchtbare Kombination.

Wirtschaftliche Inhalte nehmen übrigens immer größere Anteile in Lehrplänen für moderne technische Berufe ein. Der Vortrag von Herrn Weißbach vom Schiller-Institut am 5. November 2004 in unserer Schule beleuchtete unsere jetzige wirtschaftliche Situation aus einer ungewohnten Perspektive. Er wurde von den Lehrkräften und Schülern als sehr interessant und bereichernd empfunden.

Behnke: Etwa 70% unserer gut 2100 Schüler und Studierenden verfügen mindestens über den Realschulabschluß. Bei den Berufsschülern liegt der Prozentsatz noch höher. Dennoch sollte man sich über die von Ihnen angesprochenen Vorkenntnisse keine Illusionen machen. Das, was Sie da anführen, werden nur wenige wissen. Man kann das bei der Fülle des zu Lehrenden auch nur im Rahmen von Unterrichtsprojekten einfließen lassen.

Es gibt aber keinerlei Beschränkungen, diese Themen nicht mit heranzuziehen, um das jetzige Pflichtprogramm, z.B. soziale Sicherungssysteme, arbeitsrechtliche Bestimmungen, Betriebsverfassung, Wirtschaftsordnungen, Organisation von Betrieben usw. historisch zu beleuchten.

Behnke: Im Grundsatzteil unseres Schulprogramms haben wir unser Leitbild definiert, Leitgedanken zur Konkretisierung sowie damit zusammenhängende pädagogische Grundsätze aufgeschrieben. Da ist dann auch die Rede von verantwortungsbewußtem Umgang mit der Umwelt, um sich die Lebensgrundlage zu erhalten, vom Spannungsverhältnis von Freiheit und Verantwortlichkeit, von Einzelinteresse und Gemeinwohl.

Über die Grundrechte als Teil des Grundgesetzes gibt es durchaus Kenntnisse bei unseren Schülern, und den Staat hält man im Zweifel für allumfassend zuständig. Ich sehe eher ein Problem darin, sich verantwortlich für sich selbst, den Nächsten, die Umwelt zu fühlen, Eigeninitiative zu entwickeln, sein Leben bewußt zu gestalten. Wir wollen unsere Schüler befähigen, Technik und Arbeit mitzugestalten.

Behnke: Ich sehe unsere Zeit nicht so pessimistisch, wie das Ihre Frage nahelegt. Meine Schüler haben zwar auch Zukunftsängste - und natürlich sind die Ängste um den Arbeitsplatz größer als in bezug auf Krieg oder eine Flutkatastrophe - , aber es überwiegt doch zum Glück ein optimistischer Grundzug. Es wäre ja auch fatal, wenn die Mehrheit der Jugendlichen anders denken und fühlen würde.

Werte vermitteln kann man wirksam nur, wenn man sie auch glaubwürdig vorlebt, praktiziert. Zivilcourage gedeiht dann, wenn ein solches Schulklima herrscht, daß Widerspruch und Kritik nicht sanktioniert, sondern als Hilfe zur Weiterentwicklung angesehen werden.

Behnke: Das ist bei uns ein Randthema, aber es ist eines, das wir bearbeiten müssen, weil es natürlich in die Schule hineinschwappt. Es betrifft vor allem die Klassen mit Schülern, die weniger qualifiziert sind, aus sog. sozialen Brennpunkten kommen. Wir nehmen das sehr ernst, gehen es offensiv an, sanktionieren auch kleinere Ansätze, sobald wir davon Kenntnis bekommen. Seit einigen Jahren gibt es Gewaltpräventionsprojekte, z.T. in Zusammenarbeit mit dem schulpsychologischen Dienst, z.T. mit der Polizei.

Für ganz wichtig halte ich es, daß Schüler dieser gefährdeten Klassen ernst genommen werden, daß man ihr Selbstwertgefühl stärkt, ihnen Gelegenheit gibt, zu erfahren, daß sie auch etwas können, z.B. in der Werkstatt und in der Sporthalle. Wir haben eine Fahrradwerkstatt, führen regelmäßig Waldprojekte durch und konnten sogar einen Kurs zum Erlernen des Trommelns einrichten. Hilfreich ist auch unsere gute Ausstattung der Schulgebäude und Unterrichtsräume. Die Cafeteria hat viel zum friedlichen Umgang miteinander beigetragen.

Behnke: Diese Defizite begegnen einem ja auf allen Ebenen. Schule ist da auch wieder nur ein Spiegelbild der Gesellschaft. Manchmal beobachte ich staunend, wie sorgfältig z.B. manche Techniker mit ihren Werkzeugen umgehen und wie genau sie messen, aber wie lieblos sie ihre Muttersprache behandeln. Resignieren darf man auch in dieser Hinsicht nicht.

Für jugendliche Migranten setzen Spezialistinnen bei uns Bewährtes aus "Deutsch als Fremdsprache" ein und entwickeln das Programm selbst weiter. Deutsche Jugendliche können wir in der Berufsvorbereitung ähnlich fördern, aber in der Berufsausbildung geht das nicht mehr gesondert, sondern nur dadurch, daß viel Gelegenheit zum Sprechen und Schreiben gegeben wird und die Lehrkräfte die ärgsten Mängel gezielt bearbeiten. Soweit es sich um Nachlässigkeiten und mangelnde Kommunikationsbereitschaft handelt, hilft bei den ganz überwiegend männlichen Jugendlichen bei uns vielleicht der Hinweis, daß aus Befragungen hervorgehe, Frauen legten großen Wert auf kommunikative Fähigkeiten bei Männern.

Behnke: Eine gewisse Zeitverzögerung, einen time lag, billigt man uns bei der Umsetzung neuer technischer Entwicklungen als berufliche Schule zu. Dennoch bemühen wir uns, auf der Höhe der technischen Weiterentwicklung zu bleiben, und zwar durch Fortbildung, durch Teamarbeit und durch die von uns sehr forcierte Kooperation mit Ausbildungsbetrieben und den einschlägigen Fachfirmen. Wir stoßen dort auf eine gute Resonanz, weil es im Interesse beider liegt, mit uns zu kooperieren, denn im ersten Fall kommt das deren Auszubildenden zugute, und im zweiten Fall befördert es die Einführung neuer Produkte, wenn sich Facharbeiter und Techniker damit auskennen.

Als besonders wirksam hat sich die Zusammenarbeit mit den Betrieben in gemischten Arbeitsgruppen von Ausbildern und Lehrkräften erwiesen, die sich regelmäßig treffen.

Behnke: In der Tat besteht die Gefahr, daß angesichts der Ungewissheit, einen unbefristeten Arbeitsvertrag zu bekommen, ein Teil der Jugendlichen resigniert und die Hoffnung verliert. Nach meinem Eindruck gilt das für die Mehrheit unserer Schüler noch nicht, zumal die meisten in ihrer Ausbildung viel leisten müssen und deshalb mit der Qualifizierung auch ihr Selbstbewußtsein steigt. Ich muß sagen, daß sich alle bemühen. Auch die Lehrer versuchen die Schüler unterzubringen, die Ihre Ausbildungsstelle verlieren. Allerdings müssen viele räumlich flexibel sein, denn im Kasseler Arbeitsamtsbezirk ist die Arbeitslosenquote hoch.

Die Politik und Wirtschaftsexperten besitzen nach meiner Ansicht durchaus ein Konzept. Das lautet vereinfacht gesagt so: Die globale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft stärken, den Faktor Arbeit für die Unternehmen billiger machen, von Fachkräften viele zusätzliche überfachliche Qualifikationen (Team-, Kooperations-, Kommunikationsfähigkeit z.B.), viel Flexibilität und geringere Lohnzuwächse verlangen.

Was Sie aber meinen, geht natürlich weit darüber hinaus. Da müßte man das Wort "sozial" in unserer Wirtschaftsordnung, der Sozialen Marktwirtschaft, wieder ernster nehmen. Ludwig Erhard hatte ja die Rahmenbedingungen für einen sozialen Ausgleich geschaffen und ihre Einhaltung beschworen.

Sehr problematisch wird es für unsere Schüler in berufsvorbereitenden Schulformen, für diejenigen ohne Hauptschulabschluß, für viele aus sozial schwierigen Verhältnissen oder mit Migrationshintergrund bei schwachen Deutschkenntnissen und unterentwickelter Arbeitshaltung. Hier müssen endlich veränderte Förderkonzepte, die längerfristig angelegt sind, und weitere Ausbildungsberufe mit entsprechend geringerem Anforderungsprofil entwickelt werden.

Da wir eine Bildungseinrichtung sind, können wir uns nicht mit bloßer Qualifizierung zufrieden geben. Es muß in einer Demokratie das Ziel staatlicher Schulen sein, junge Menschen zur Selbst- und Mitbestimmung und das heißt auch zur Mitgestaltung von Arbeit, Technik und Gesellschaft zu befähigen. Solche Schulen müssen Entsprechendes für ihre Schüler erfahrbar machen, vor allem im Unterricht, aber auch im Schulleben.

Wir stecken mitten im Umgestaltungsprozeß an unserer Schule. 25 unserer 74 hauptamtlichen Lehrkräfte haben im vergangenen Jahr ein systematisches Methodentraining absolviert. In diesem Jahr kommen weitere dazu. Resignation können wir uns nicht leisten. Einzelkämpfertum auch nicht. Mit Teamarbeit haben wir schon viel erreicht.

Die Rahmenbedingungen für die Lehrkräfte wurden in jüngster Zeit verschlechtert (Arbeitszeitverlängerung, Einkommenskürzungen). Das sollte jetzt aufhören, sonst geht zuviel Motivation verloren.

Behnke: Selbstverständlich hatte ich Ziele, auch ein persönliches, nämlich gute Arbeit zu leisten, mit einem Schulleitungsteam daran zu wirken, daß die Schule dort, wo sie gut war, gut blieb und wo sie es nicht war, entsprechend auf den Weg gebracht wurde, um insgesamt eine gute Schule zu sein. Das hieß, Unterricht und Erziehung in den Mittelpunkt zu rücken, dafür zu sorgen, daß neben der Fachkompetenz auch die Methoden-, Sozial- und Personalkompetenz unserer Schützlinge entwickelt wurde. Dazu mußten Rahmenbedingungen überprüft und Mängel behoben werden, insbesondere der Mangel an Räumen und moderner Ausstattung.

Nach gut 22 Jahren Schulleitertätigkeit sehe ich die Schule auf einem guten Weg. Sie wurde erweitert. Von den vorhandenen Gebäuden, Räumen und Ausstattungen sind etwa 80% saniert und modernisiert. Das Kollegium engagiert sich überdurchschnittlich. Wir haben eine Teamstruktur, kooperieren gut mit unserem Umfeld, insbesondere mit den Ausbildungsbetrieben, kompensierten den Verlust auslaufender Ausbildungsberufe durch attraktive neue, beteiligten uns an elf Modellversuchen und gehören ab 1. Januar 2005 zu den 17 beruflichen Schulen, die an dem hessischen Modellprojekt "Selbstverantwortung plus" teilnehmen werden, bei dem es um mehr Selbständigkeit bei Finanzen und Personal geht. Das halte ich für den richtigen Weg, um die Schule noch intensiver fortzuentwickeln.

Natürlich ist es auch wichtig, daß Lehrer in der Lage sind, Schüler für ihr Fach zu begeistern. Das geht nur, wenn diese Lehrer sich diese Begeisterung für ihr eigenes Fach auch bewahrt haben.

Ich bin alles in allem zufrieden mit dem Ergebnis, an dem ich im Schulleitungsteam, sicher maßgeblich, mitgewirkt habe. Berufsschullehrer, Fachleiter (Ausbilder von Lehrkräften) und Schulleiter zu sein heißt, sinnvolle, sehr befriedigende Tätigkeiten auszuüben. Ich bin sicher, daß mein Nachfolger und sein Team die Schule weiter entwickeln werden. Das erleichtert den Abschied, aber der Einschnitt in mein bisheriges Leben ist tief. Das werde ich verarbeiten und dann ein sehr verändertes Leben führen.


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