Oktober 2002: |
Pfad: |
Ein Jahrhundert-Crash fegt über die weltweiten Börsen hinweg. Großunternehmen, die zwei Weltkriege und die Große Depression überlebten, gehen reihenweise unter. Und diejenigen Unternehmen, die es bislang fertigbrachten, allen Widrigkeiten zum Trotz noch irgendwie den Kopf über Wasser zu halten, sind hoffnungslos überschuldet und fallen als Investitionsmotor für den herbeigesehnten Aufschwung aus. Wenn nun auch noch den überschuldeten Verbrauchern in den USA die Puste ausgeht, und dieser Fall könnte bereits im vierten Quartal diesen Jahres eintreten, dann ist es um die Weltwirtschaft und das globale Finanzsystem geschehen. So ist die absurde Lage entstanden, daß die Zentralbankchefs in den USA und Großbritannien ihr tägliches Geschäft inzwischen jeden Morgen mit einem Stoßgebet beginnen, der Herrgott möge doch zumindest ihre Immobilienblasen vor dem Zusammensturz bewahren, denn das Gedeihen dieser spekulativen Blasen bietet den letzten verbliebenen Hebel für die weitere Kreditexpansion und damit für den „Konsum auf Pump" bei den privaten Haushalten.
Angesichts dieser extrem explosiven Gesamtlage grenzt es beinahe an ein Wunder, wie jüngst auch der Fed-Vorsitzende Alan Greenspan einräumte, daß in den vergangenen Wochen und Monaten noch keine große Finanzinstitution in den USA, Europa oder Japan ihre Zahlungsunfähigkeit erklärte. Dies könnte aber nun sehr bald geschehen. Der potentielle Einsturz führender internationaler Bankhäuser ist in den ersten Oktobertagen zum bestimmenden Thema an den welteiten Finanzmärkten geworden. Ein beispielloses Hauen und Stechen hat im globalen Finanzsektor eingesetzt, weil führende Großbanken nur noch dadurch von eigenen Problemen abzulenken wissen, indem sie irgendeinen Konkurrenten, möglichst in Übersee, in Verruf bringen.
Bereits im Sommer waren amerikanische Großbanken wie J.P. Morgan Chase und Citigroup wegen fauler Schulden, einbrechendem Investmentbanking und der Verwicklung in Bilanzfälschungen in die Schlagzeilen geraten. Später verlagerte sich der Schwerpunkt der Befürchtungen erneut nach Japan, wo der neue Finanzoberaufseher Takenaka gerade verkündete, keine einzige der japanischen Banken sei "too big too fail". Schließlich entdeckten amerikanische Investmentbanken im September das Thema einer deutschen Bankenkrise "japanischen Stils". Den vorläufigen Höhepunkt gegenseitiger Bezichtigungen mit dem Untergang kämpfender Banken bildete die "zufällig" an die Financial Times geratene E-Mail eines Mitarbeiters von Merrill Lynch, welcher der US-Ratingagentur Standard & Poor's Gerüchte über ein geplatztes Kreditderivatgeschäft der Commerzbank meldete, woraufhin die Ratingagenturen prompt die Commerzbank herunterstuften . Commerzbank Vorstandschef Klaus-Peter Müller verfaßte einen Brief an die Mitarbeiter, indem er die Meldungen als "wilde" und "böswillige" Spekulationen bezeichnete, die zumeist vom Finanzplatz London ausgingen.
Eine Begleiterscheinung dieser Entwicklungen ist eine Kernschmelze deutscher Finanzaktien von historischem Ausmaß. Als im Herbst 1998 mehrere hundert Milliarden Dollar europäischer Bankkredite in Asien zu verbrennen drohten, kamen die Aktienkurse deutscher Banken noch mit einer Halbierung weg. Diesmal haben wir es mit ganz anderen Dimensionen zu tun. So kollabierte der Wert der Commerzbank-Aktie von 44 Euro vor zwei Jahren auf etwas mehr als 5 Euro am 8. Oktober, ein Rückgang um 88% auf den tiefsten Stand seit 20 Jahren. Die Marktkapitalisierung der Commerzbank schmolz im gleichen Zeitraum auf ein Achtel, von 24 auf knapp 3 Milliarden Euro zusammen. Nicht viel besser erging es den übrigen Finanztiteln des DAX: Bayerische HypoVereinsbank (-84%), Deutsche Bank (-64%), Allianz/Dresdner Bank (-83%), Münchener Rück (-75%), MLP (-96%). Die gesamte Marktkapitalisierung der genannten sechs Finanztitel implodierte von rund 330 Milliarden Euro während des Höhepunkts im Jahre 2000 auf 71 Milliarden Euro Anfang Oktober 2002.
Der plötzliche Ausbruch von Befürchtungen einer Bankenkrise, nicht zuletzt m Deutschland, hat die hiesige Bankenprominenz aufgeschreckt. Die Art und Weise, wie sich deutsche Bankenvertreter und -aufseher in den vergangenen Tagen äußerten, läßt in jedem Fall tiefe Verunsicherung und erhebliche Aufgeregtheit hinter den Kulissen erkennen. Der Chefökonom der Europäischen Zentralbank (EZB) Otmar Issing wies den Begriff "Bankenkrise" weit von sich, fügte dann aber hinzu, die Situation der deutschen Banken sei "durchaus als dramatisch zu bezeichnen". Später mußte er klarstellen, mit dem Prädikat "dramatisch" natürlich nicht die wirtschaftliche Lage der Banken gemeint zu haben, sondern lediglich deren Kursverfall an den Aktienmärkten. Edgar Meister von der Bundesbank betonte: "Die bisherigen Insolvenzen und Schieflagen waren Einzelfälle, die keinen Rückschluß auf das gesamte System zulassen." Weder bei den Großbanken noch bei den übrigen Instituten sei die Liquidität gefährdet.
Die neugeschaffene Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen (BaFin) schaltete sich ebenfalls in den Chor des Bankenpanik-Bekämpfungsteams ein. Es gebe keinen Grund zur Panik und von einer "Zuspitzung der Lage Im deutschen Bankenwesen", so BaFin-Vizepräsident Karl-Burkhard Caspari, könne gar keine Rede sein. Es sei abwegig zu behaupten, deutsche Großbanken könnten zum Jahresende die Baseler Eigenkapitalanforderungen für das internationale Bankengeschäft nicht mehr erfüllen. Er fügte hinzu: "Insgesamt fehlt mir jegliches Verständnis für die gegenwärtigen Übertreibungen des Marktes, insbesondere für die Zweifel an der Liquidität deutscher Institute." Seine Behörde prüfe gar, ob man im Falle der Commerzbank rechtliche Schritte wegen gezielter Verbreitung böswilliger Gerüchte ergreifen werde.
Schließlich sah sich auch Rolf E. Breuer, einst Vorstandssprecher und neuerdings Aufsichtsratschef der Deutschen Bank, ob seiner Position als amtierender Präsident des deutschen Bankenverbandes genötigt, ein Bekenntnis für die Stabilität deutscher Banken abzugeben. Es gebe keine Krise des Bankensystems in Deutschland. Es gebe "auch keine Liquiditätskrise und auch keinen Anlaß, eine solche zu befürchten".
Sowohl die gegenseitigen Bezichtigungen der Banken wie die Beschwörungen der deutschen Bankenvertreter vernebeln den Blick auf die Realitäten. Tatsächlich haben wir es mit einer den gesamten weltweiten Bankensektor erfassenden Krise zu tun, die wiederum einen Teilaspekt des globalen finanziellen Zusammenbruchsprozesses darstellt.
Eine Weile konnten die Banken durch den Einsatz "innovativer Finanzinstrumente" (etwa Kreditderivate) und geschickter Bilanzierungen den immer stärker werdenden Leichengeruch in ihren Kellern verdecken. Doch nun kommt einfach soviel zusammen, daß selbst die stärkste Parfümierung nicht mehr wirkt: Die Zahl der Unternehmensbankrotte und damit zusammenhängender Kreditausfälle steigt in den USA, Japan und Deutschland von einem Rekord zum nächsten.
Schon im September summierten sich die Zahlungsunfähigkeiten bei Unternehmensanleihen des laufen den Jahres (140 Mrd. Dollar) auf den höchsten Wert aller Zeiten. Insgesamt 28 Staaten gerieten in diesem Jahr auf 133 Mrd. Dollar an Schulden in Verzug (einschließlich Argentinien), doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Sollte Brasilien, wie befürchtet, dem Kreis der zahlungsunfähigen Schuldner beitreten, könnte sich diese Zahl auf mehr als eine halbe Billion Dollar vervielfachen. In den USA sind nach dem am 8. Oktober veröffentlichten Bericht der Bankaufseher inzwischen 12,6% (157 Mrd. Dollar) von insgesamt 1871 Mrd. Dollar an ausstehen den Bankkrediten als "problematisch" einzustufen. Dies entspricht einer Versiebenfachung gegenüber 1997.
Banken wie J.P. Morgan Chase (26 Billionen Dollar) und Deutsche Bank (11 Billionen Euro) sind zudem große Spieler im globalen Spielkasino der Finanzderivate, das nun im Segment der Kreditderivate erste tektonische Erschütterungen offenbart. Der Londoner Observer bemühte am 6. Oktober bereits "das Gespenst der Creditanstalt, jener österreichischen Bank, welche im Jahre 1931 unterging und die globale Depression einläutete".
Zurück zur Wirtschaft-Hauptseite: