Januar 2004:

Dialog der Kulturen im Jahre 1819

West-Östlicher Divan: Wie Goethe die Nachfolger der Inquisition ausflankierte

Mohammed Schemsed-din Hafis
Im Bild Mohammed Schemsed-din Hafis - eine erste Übersetzung seines Gedichtbandes "Der Divan" von Joseph von Hammer-Purgstall erschien 1812 in Deutschland.

Gabriele Liebig beschreibt die politischen Gründe hinter Goethes West-Östlichem Divan.

Im Jahre 1814 fiel Goethe eine Gedichtsammlung des persischen Dichters Mohammed Schemsed-din Hafis in der Übersetzung des Wiener Philologen Hammer-Purgstall in die Hände. Dieser Divan des östlichen Dichterbruders aus dem 14. Jh. begeisterte ihn so sehr, daß er die nächsten Jahre dem Studium der persischen und arabischen Geschichte, Dichtkunst und Religion widmete. Die orientalische Poesie inspirierte ihn zu einer eigenen Gedichtsammlung, dem West-Östlichen Divan.

Unterdessen verbreitete am Zarenhof Alexanders I. in St. Petersburg der unsägliche Graf Joseph de Maistre als savoyischer Gesandter seine erzreaktionären Ideen. Zur Niederschlagung revolutionärer Umtriebe empfahl er wärmstens die Wiedereinführung der Inquisition. Sie habe sich im 16. Jh. nach der gewaltsamen Vertreibung der Juden und Mauren aus Spanien als geeignetes Instrument erwiesen, die Überreste jüdischen und mohammedanischen Denkens auszutilgen, indem man "Judentum und Mahometismus" mit dem Bann der Ketzerei belegte.1

Im Europa nach der gescheiterten Französischen Revolution, dem Aufstieg und Fall Napoleons und den Befreiungskriegen waren es nun freilich nicht die Juden und Mauren, gegen die sich die von de Maistre gepriesene neue Inquisition richten sollte, sondern die europaweite Verfassungsbewegung. In allen kleinen und großen Staaten traten fortschrittliche Leute dafür ein, dem feudalen Absolutismus ein Ende zu setzen und die Macht der Fürsten durch eine Verfassung einzuschränken. Dazu gehörten vor allem die preußischen Reformer, Freiherr vom Stein und Goethes Freund Wilhelm von Humboldt, der Preußen als Gesandter beim Wiener Kongreß vertrat. Gegen diese Verfassungsbewegung richtete sich 1815 die Heilige Allianz der Monarchen Rußlands, Österreichs und Preußens.

Der entsprechende inquisitorische Repressionsapparat wurde 1819 mit den Karlsbader Beschlüssen eingeführt. Den Anlaß dafür lieferte der terroristische Anschlag des Studenten Karl Sand auf den Schriftsteller und vormaligen russischen Staatsrat August von Kotzebue. In allen deutschen Fürstentümern, die dem von Metternich beherrschten Deutschen Bund angehörten, wurde nun strengste Pressezensur verhängt, verbotene Bücher und Zeitschriften durften auch in keinem anderen "Bundesstaat" mehr erscheinen. Unliebsame Professoren konnten entlassen werden und durften auch in keinem anderen Staat mehr beschäftigt werden. Es wurde eine zentrale Untersuchungsbehörde gegen revolutionäre und demagogische Umtriebe mit Sitz in Mainz eingerichtet. Außerdem würden die "Bundesstaaten" sich bei der militärischen Niederschlagung von Unruhen gegenseitig unterstützen.

Wilhelm von Humboldt, der 1819 in die preußische Regierung eingetreten war, um sich für die vom König lange versprochene Verfassung einzusetzen, protestierte in mehreren Denkschriften gegen die Karlsbader Beschlüsse und den ebenso maßlosen wie undurchsichtigen Einsatz der Polizei: "Rein inquisitorisch... zu verfahren, die Idee der Gefahr auf das äußerste zu steigern und, was nun eigentlich das gefährliche ist, in tiefes (zum größten Teil auch uns im Staatsministerium nicht enthülltes) Geheimnis zu hüllen... heißt m.E., ganz über dasjenige hinauszugehen, was hier notwendig und was heilsam war."2
Daraufhin mußte Humboldt seinen Ministerposten räumen. Er widmete sich nun wissenschaftlichen Arbeiten, insbesondere der vergleichenden Philologie.

Warum überhaupt "Inquisition"?

Warum verglichen Befürworter und Gegner der Restauration ihren Unterdrückungsapparat mit der spanischen Inquisition? Bei den Karlsbader Beschlüssen war der österreich-habsburgische Kanzler Metternich die treibende Kraft, und die spanische Inquisition des 16. Jh. war auch ein Projekt des Hauses Habsburg. Das ist aber nicht der einzige Grund.

1776 erfüllte die amerikanische Unabhängigkeitserklärung alle humanistisch denkenden, weltoffenen Europäer mit Hoffnung, aber es war gefährlich, darüber allzu offen zu schreiben und zu diskutieren. So verlegte man den "Lieblingsgegenstand des Jahrzehnts" (der 80er Jahre des 18. Jh.), den "Bau der wahren politischen Freiheit", zwei Jahrhunderte zurück. Der Abfall der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung (Schiller)3 wurde zur Metapher für den Abfall der amerikanischen Kolonien von der britischen Regierung und die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika. Schiller schrieb Don Carlos (1782-87), Goethe schrieb Egmont (1775-87), und Schillers Großinquisitor und Goethes Herzog von Alba bringen schon dieselben reaktionären Sprüche, wie sie dann später der finstere Konterrevolutionär de Maistre ab 1802 in der wirklichen Politik auftischte.

Wenn also de Maistre 1815 ein Loblied auf die spanische Inquisition des Kardinal-Großinquisitors Torquemada sang, dann reagierte er damit auf den Vergleich des niederländischen Unabhängigkeitskampfes mit der Amerikanischen Revolution. Denn eine Wiederholung dieser gelungenen großen Umwälzung (von der Goethe nicht weniger begeistert war als sein Freund Schiller) zu vereiteln, war ja das Hauptziel de Maistres und seiner Auftraggeber.4 Und jetzt, nach den inquisitorischen Karlsbader Beschlüssen wurden alle, die das Feudalsystem abschaffen wollten und eine Verfassung forderten, als Revolutionäre und Demagogen verfolgt und mundtot gemacht. Einer der Justizbeamten in der neuen Untersuchungskommission, die 1819 gegen Humboldts Widerstand in Berlin eingerichtet wurde, war übrigens der Dichter E.T.A. Hoffmann,5 ein führender Vertreter der Romantischen Schule.6

Während die Vertreter der Romantischen Schule meist so taten, als ob Amerika gar nicht existierte, war noch der alte Goethe ein ausgesprochener Amerikafreund und sein Haus in Weimar Anlaufstelle für viele prominente Besucher aus der Neuen Welt. Als ihn der junge amerikanische Chemiker Cogswell besuchte, sagte Goethe: "Wären wir 20 Jahre jünger,... so segelten wir noch nach Amerika.".7 Und in dem kleinen Gedicht Amerika, du hast es besser (1827) gibt Goethe den Amerikanern den guten Rat:

Das mag durchaus ein Seitenhieb auf "Gespenster-Hoffmann" sein, von dem Goethe auch als Dichter überhaupt nichts hielt.

Goethes Divan

Ich höre schon die Einwände gewisser Germanisten und Goethe-Biographen: "Was hat das alles mit Goethes West-Östlichem Divan zu tun (der 1819 im Druck erschien)? Ihm gefielen einfach Hafis' Gedichte, und noch mehr gefiel ihm das gemeinsame Dichten mit der jungen Frankfurter Bankiersgattin Marianne von Willemer, und so entstand eben der Divan." Dem ist insofern beizustimmen, daß Goethe sicherlich mit Lust und Liebe am Divan gearbeitet hat, warum auch nicht? Das bedeutet aber nicht, daß dies im luftleeren Raum, losgelöst von den historisch-politischen Zeitläuften geschah. Und noch weniger schließt es aus, daß Goethe sich bei dieser eingehenden Beschäftigung mit der Kultur des Orients auch etwas gedacht hat!

Aus dem Briefwechsel Schiller-Goethe wird deutlich, wie sehr sich die beiden Dichter für die Poesie und die Kultur im deutschsprachigen Raum verantwortlich fühlten. Wir kennen Goethes Abneigung gegen die frömmelnde Bigotterie der Biedermeierkultur, die von der Obrigkeit der Heiligen Allianz dem Volk sozusagen verordnet wurde. Wir können uns vorstellen, wie er für diese verknöcherte, tote Geistesumwelt nach einer Verjüngungskur suchte. Die Weimarer Klassik entstand wie die italienische Renaissance durch die Rückbesinnung auf die Philosophie und Dichtung der alten Griechen. Man übersetzte, empfand nach, schuf neue klassische Gedichte. Goethe suchte in einer Lebenskrise sogar physisch Zuflucht in Italien mit seiner Renaissancekultur. Und nun eröffnete sich mit Hafis und der persischen und arabischen Dichtung die Welt der dazwischen liegenden morgenländischen Renaissance des 8.-14. Jh. Das war die gesuchte Verjüngungskur.

Das erste Gedicht in Goethes West-Östlichem Divan heißt "Hegire" und beginnt so:

Wie bei Hafis ist in Goethes Divan nun von Wein und Liebe, Hatem und Suleika die Rede, aber auch von der ewigen Dichtkunst und dem Schöpfergott. Und auch von den Verfolgungen, denen nicht nur Dichter wie Hafis ausgesetzt waren. Das Eingangsgedicht "Hegire" nimmt Bezug darauf und endet mit der Strophe: So griff Goethe mit seinem Divan Lessings Idee vom großen Menschheitsdialog der Religionen und Kulturen auf, die dieser in seinem Nathan vorgestellt hatte und die in den Napoleonischen Kriegswirren und der staatlich verordneten romantischen Frömmelei verschüttet schien. Goethes Divan ermunterte wiederum das Sprachgenie Friedrich Rückert zu seinen meisterhaften Übersetzungen orientalischer Poesie und davon inspirierten Gedichten, wobei er sich viel stärker als Goethe auch in die fremde poetische Form hineinzudenken verstand. Und so wurde die östliche Dichtung wirklich der deutschen Dichtung einverleibt und regte viele andere Dichter zu eigenen Ideen und Werken an.

"Weltpoesie allein ist Weltversöhnung", schrieb Rückert. Die Dichtung selbst wurde zu einer Brücke zwischen den Völkern. Das meinte auch der iranische Staatspräsident Chatami, den sein Staatsbesuch in Deutschland im Jahre 2000 auch nach Weimar führte, wo er einen weltweiten Dialog der Kulturen anregte. Dies wiederum veranlaßte den Poesiekreis im Schiller-Institut, die "Dichterpflänzchen", sich diesem Dialog stärker zu widmen. Rosa Tennenbaum verfaßte damals ein Rezitationsprogramm über Goethes West-Östlichen Divan, das am kommenden Sonntag in Frankfurt erneut aufgeführt wird.8



Anmerkungen

1. Auszug aus Joseph de Maistre, "Briefe an einen russischen Edelmann über die spanische Inquisition" (1815), zit. in Children of Satan II, Die Wiederkehr der Barbarei, Böttiger-Verlag, Wiesbaden 2004, S. 6f.

2. Herbert Scurla, Wilhelm von Humboldt, Heyne-Biographien, München 1976, S.550.

3. Schiller, Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung, 1788.

4. Anton Chaitkin, Zur Geschichte des Synarchismus, in: Neue Solidarität, Nr. 4, 21.1.2004.

5. Vgl. H. Scurla, a.a.O., S.557.

6. Helga Zepp-LaRouche, "Was die Romantik in Deutschland angerichtet hat", in: Neue Solidarität, Nr. 27 und 28, 2000.

7. Walter Hinderer, "Goethe und Amerika", Vortrag beim Goethe-Symposium in Tokio, 1999, www.info.sophia.ac.jp/g-areas/DE-GoetheSymHinderer.htm

8. Es folgten 2001 ein Rezitationsprogramm über F. Rückert in Wiesbaden, 2002 ein Festival persisch-deutscher Dichtung in Düsseldorf und Wiesbaden, 2003 ein Programm über klassische indische und deutsche Dichtung.


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