Die Gebrüder Grimm
von Caroline Hartmann
Ob als Märchensammler, Sprachwissenschaftler oder Politiker: Jakob und Wilhelm Grimm stellten ihre Arbeit in den Dienst des nach dem Wiener Kongreß erschwerten Kampfs für die Bürgerrechte und die Einheit Deutschlands.
Die Sprache als Spiegel des menschlichen Denkens
Früher gab es so etwas wie eine Kulturtradition, d.h. die Überlieferung der Kultur von einer Generation zur nächsten. Sie war gleichzeitig eine Tradition der moralischen Wertvorstellungen. Sie variierte ein wenig von Nation zu Nation, von Region zu Region, je nach deren eigentümlichen Charakter, aber die Fundamente waren immer die gleichen. Diese kulturellen Grundlagen konnten die jungen, heranwachsenden Menschen daher immer aus ihrer Umgebung und je nach den Umständen, unter denen sie aufwuchsen, aufnehmen und benutzen. Sie gaben ihnen eine Orientierung bzw. einen Wegweiser für das, was für den Aufbau der Zukunft entscheidend ist. ... Und so entstand ein Gefühl der Verbundenheit zwischen den Generationen, so daß man praktisch immer auch einen Blick in die Vergangenheit warf, um zu sehen, welche Verpflichtungen man aufgrund der Beiträge früherer Generationen hatte. Auf diese Weise näherte man sich einer Art Verständnis von Unsterblichkeit. ... Heute ist diese Verbindung zwischen den Generationen, welche vom beständigen Streben für die Sache der Menschheit herrührt, zerstört und zerbrochen durch eine Generation des Hier und Jetzt. ...
(Lyndon LaRouche, Rede auf einem Seminar der iberoamerikanischen Jugendorganisation, Sonntag, 13. April 2003)
Die Befreiungskriege: Von Amerika bis Deutschland
Die Situation der heutigen Jugend kann man durchaus mit derjenigen zur Zeit der Amerikanischen Revolution vergleichen. Damals wie heute bestand eine riesige Spannung zwischen zwei sich gegenüberstehenden Zukunftsvisionen; einerseits die Hoffnung auf Verwirklichung der Freiheit des Einzelnen und seiner Menschenrechte sowie des Rechts einer eigenständigen wirtschaftlichen Entwicklung souveräner Staaten - wie es vom siegreichen Kampf der amerikanischen Kolonien nach Europa zurückschallte - und andererseits der Versuch mächtiger Finanz- und Adelsinteressen in Europa, die alten feudalen Machtstrukturen, welche nur einer kleinen Elite das Recht des "Menschseins" ermöglichten und alle anderen zu Sklaven machten, zu verteidigen.
Diese feudalen Interessen bestimmten Europa zur Zeit der Amerikanischen Revolution. So bestand Deutschland noch 1815 aus nicht weniger als 38 souveränen Fürsten- und Herzogtümern. In jedem herrschte das Recht des jeweiligen Landesfürsten, weil für ihn der einzelne Mensch nur "Untertan" und seiner Willkür unterworfen war. In Frankreich begann die Revolution nach dem Vorbild Amerikas, doch wurde sie mit Blut ertränkt und mündete in die machthungrigen Eroberungszüge Napoleons, welche ganz Europa in den Krieg stürzten. Durch diese gescheiterte Revolution wurde klar: Es sind nicht "Gleichheit und Brüderlichkeit" und das Loslassen aller Regeln, die den Menschen frei machen.
Was ist aber dann wirkliche Freiheit? Die Unabhängigkeitserklärung der amerikanischen Kolonien von 1776 ist bis heute das beste Beispiel für die Spannung zwischen den beiden, sich diametral gegenüberstehenden Auffassungen vom Menschen und seiner wirklichen Freiheit. Bewußt wurde nämlich nicht John Lockes Forderung nach "Recht auf Leben, Freiheit und Besitz" gewählt, sondern die große Leibnizsche Idee, die das "Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit" beinhaltet.
Diese Idee hatte Benjamin Franklin 1766 von seinem Besuch in Göttingen zurück nach Amerika gebracht, und seine Freunde in Philadelphia waren begeistert. Nein, der Mensch ist nicht das Lebewesen, dessen gesamte Regungen und Gedanken auf seine Sinneseindrücke und deren Verarbeitung in seiner "Kopfmaschine" zurückgeführt werden können - wie John Locke in seiner Schrift "Abhandlungen über den menschlichen Verstand" behauptete. Der Mensch ist ein Ideenwesen! Leibniz hatte dies in seiner Gegenschrift "Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand" bewiesen, und jeder kann es an sich selbst nachvollziehen: Alles sinnliche Verstehen versagt bei den Paradoxen in der menschlichen, physikalischen und astronomischen Welt1. Der Mensch hat eine göttliche Erkenntniskraft. Diese entfalten zu können, ist sein ureigenes Glück, Lust und Glückseligkeit. Leibniz schrieb:
"Aber die Lust, so die Seele an sich selbst, nach dem Verstand, empfindet, ist eine solche gegenwärtige Freude, die uns auch vors Künftige bei Freude erhalten kann ... und die, so dergleichen gemeinsamen Zweck haben, können in Untersuchung der Wahrheit, Erkenntnis der Natur, Vermehrung menschlicher Kräfte und Beförderung ihres gemeinen Besten einander helfen und neues Licht geben."2
Vor dem riesigen Potential der "Vermehrung menschlicher Kräfte" zitterten die Fürstenhäuser Europas, doch bis zu ihrer Verwirklichung war es noch ein langer Weg. Friedrich Schiller war es, der diese großen Ideen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa verbreitete. Es ging um die Veredelung der Charaktere, um aus jedem Menschen einen König zu machen! Schiller war der Mittelpunkt einer richtigen Jugendbewegung. Mit den Ideen aus Schillers Werken gewappnet, hatten sich aus allen deutschen Landen begeisterte junge Menschen an den Befreiungskriegen gegen Napoleon beteiligt. Studenten wie Soldaten trafen sich nachts, um "Die Räuber" oder "Kabale und Liebe" mit verteilten Rollen zu lesen; viele trugen die Gedichte Schillers bei sich.
Die Ideen beseelten alle Bereiche des Staates. Das Bildungswesen wurde praktisch durch Schillers Ideen verbessert (zum engsten Kreise seiner Freunde gehörten ja die Humboldts), und auch die Heeresreformen Hardenbergs und vom Steins führten dazu, daß junge talentierte Männer aus dem Volke verantwortliche Posten bekleiden konnten. Tatsächlich wurden die Befreiungskriege der europäischen Völker gegen Napoleon mit dieser großen Idee vom Potential des Einzelnen gewonnen.
Gerade in Deutschland wurde die Lage paradox; denn viele der deutschen Landesfürsten, die bereits während der amerikanischen Befreiungskriege junge Männer für den Kampf gegen die "Aufständischen" an die Briten verkauft hatten, mußten jetzt auch Soldaten für Napoleon bereitstellen, so daß es nicht selten vorkam, daß sich Landsleute gegenseitig bekämpften. In Deutschland ging es daher bei diesem Befreiungskampf nicht nur um die Befreiung des Landes, sondern vor allem um die Verwirklichung der Ideen von Freiheit und Menschenwürde, und dies konnte nur durch die Bildung eines souveränen Gesamtstaates geschehen, in dem eine einzige Verfassung galt - und nicht 38 verschiedene Fürstenmeinungen.
Schillers Jugendbewegung und die Brüder Grimm
Waren die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm, die heute bei Jung und Alt wegen ihrer berühmten "Kinder- und Hausmärchen" bekannt sind, "Romantiker" oder standen sie eher in der Tradition Friedrich Schillers? Jakob nannte Schiller den "Lieblingsdichter des Volkes" und sagte 1859 in seiner "Rede auf Schiller" zu dessen 100. Geburtstag, daß "die Menschen sein Lied an die Freude ewig singen werden". Sie waren zwar nicht als Soldaten beim Befreiungskrieg, gehören aber zu denen, die entscheidend für den Erfolg waren. Jakob betonte oft den "hohen Wert einer Verfassung, in der man stolz und ruhig leben kann. Alle übrigen Arbeiten und Pläne kommen einem ohne sie schal vor."
Die Brüder waren in der Tat an allen wichtigen Versuchen auf dem Wege zum souveränen Staat und zur Schaffung der ersten deutschen Verfassung, welche die Grundlage des heutigen Grundgesetzes bildet, in bedeutsamer Weise beteiligt: Jakob als Begleiter des hessischen Gesandten beim Wiener Kongreß und als Berichterstatter für den Rheinischen Merkur; beide unter den "Göttinger Sieben" als Verteidiger des auf die Verfassung geleisteten Eides, und Jakob schließlich als Abgeordneter der ersten deutschen verfassungsgebenden Nationalversammlung 1848 in Frankfurt am Main.
Ihr Hauptziel galt der "Erhöhung des Menschengeschlechts", denn wie Schiller waren sie sich bewußt, daß es ohne die Veredelung des Einzelnen keine wahre Freiheit geben kann. Durch die Erforschung der poetischen Reichtümer des Vaterlandes und das Aufsuchen der ältesten Sprachzeugnisse wollten sie die Entwicklung der Sprache als eines "Spiegelbildes des menschlichen Denkens" zurückverfolgen; denn "wer die Geschichte durchforscht", wird "die Poesie als einen der mächtigsten Hebel zur Erhöhung des Menschengeschlechts, ja als wesentliches Erfordernis für dessen Aufschwung erkennen".3
Die "Ausgrabung" und Wiedererweckung einer eigenständigen Kultur, die von einer Generation auf die nächste mittels Poesie, Fabel, Sagen und Märchen weitergetragen wurde, aber nur noch in Resten übriggeblieben waren - verstaubt vielleicht in den Gemäuern alter Kirchen, vergessen und unerkannt unter irgendwelchen Bücherstapeln in uralten Bibliotheken, oder als Erinnerung in den Köpfen alter Menschen - , wählten sie schon früh zu ihrem eigentlichen Ziel. Nur so konnte sich ein einiger Staat ausbilden, wenn die Menschen die geistige Entwicklung ihrer eigenen Väter kennen und schätzen lernen.
Denn das Wissen über die großen Errungenschaften und schönen Erzeugnisse der Vergangenheit rührt und erhebt den Menschen, und erst durch sie erkennt er seine eigene Bedeutung und Aufgabe, aber auch sein Potential. Erst wenn er die Eigentümlichkeiten der eigenen und anderer Sprachen (bzw. Völker) kennt, lernt er sein eigenes Land und damit alle anderen lieben. Denn die jeweilige Kultur jeder Nation ist charakteristisch, und gerade in der alten Poesie zeigt sich oft die Tiefe der Überzeugungen und die Größe des Denkens der Vorgänger. Aus längst vergessenen alten Schriften, mündlichen Überlieferungen und Erzählungen suchten sie Zeugnisse der Dichtung aller nordischer Länder in mühseliger Kleinarbeit zusammen.
Sie initiierten gleichzeitig eine ebensolche Forschung in vielen anderen Ländern, von Island bis Italien, von Frankreich bis Rußland. Sie stellten, wie auch schon vorher Herder, die These auf, daß sich die Sprachen aller Völker aus den Ursprachen Sanskrit und Tankrit parallel entwickelt haben:
"Die Kraft der Sprache bildet Völker und hält sie zusammen, ohne solches Band würden sie sich versprengen ... Diese Sprache, dies Denken steht aber nicht abgesondert da für einzelne Menschen, sondern alle Sprachen sind eine in die Geschichte gegangene Gemeinschaft und knüpfen die Welt aneinander. Ihre Mannigfaltigkeit eben ist bestimmt, den Ideengang zu vervielfältigen und zu beleben."4
Zwei wichtige Erkenntnisse zeigten sich in ihren Forschungen. Erstens deutet sich schon die erwähnte "Urgemeinschaft der Völker" durch viele Zeugnisse der parallelen Sprachentwicklung an und zweitens die Tatsache, daß die Sprache mit dem Gedanken aufs engste verknüpft ist und daher alle Sprachzeugnisse gleichzeitig die schönsten Beispiele für die Entwicklung des menschlichen Denkens sind: Vom ersten Erahnen und Begreifen der Naturgesetze, über die Anfänge einer selbstreflexiven Erkenntnis der Macht der Vernunft bzw. der eigenen Geisteskraft bis zur Ablehnung der Vielgötterei und den ersten Anfängen des Christentums. Aus diesem Grunde ist es erst die Kenntnis seiner Geschichte und der Ideen der vorangegangenen Kulturen, die den Menschen zum Menschen macht:
"... ich möchte dazu beitragen, daß Sie lernen die Gegenwart auch aus der Vergangenheit, mit der sie durch unzählige Fäden zusammenhängt, zu erkennen. Man gräbt einen verschütteten Brunnen auf, nicht damit jemand auf dem Wasserspiegel sein eigenes Gesicht wohlgefällig beschauen könne, sondern damit seine Quelle heraufdringe und den Boden, da wo er dürr und unfruchtbar geworden ist, tränke und befruchte. Nicht zu einer seelenlosen Nachahmung stelle ich es auf, der sich der freie Geist des Menschen niemals unterwirft; nicht die Sonne allein, der günstige Himmel, wenn ihn das Geschick über uns ausbreitet, kann das Gedeihen der Pflanze sichern, sie muß auch aus der Tiefe ihre Säfte ziehen und Triebkraft empfangen. Die Geschichte ist der Boden unter uns, in dem wir Wurzel schlagen. Unsere Arbeit besteht darin, daß wir die Steine hinwegschaffen, die Gleichgültigkeit oder Unverstand darauf geworfen haben. Wer sich von der Geschichte wegwendet ... wer jeden Tag von neuem beginnt und mit dem Abend beschließt, der gleicht jenen gespenstischen Wesen Rübezahls, die den Schein des Lebens einen Tag annahmen, aber mit der einbrechenden Nacht wieder verwelkten. Aber der Weg zu diesem Ziele ist kein leichter ... nur durch ein genaues, nichts einzelnes, keine Kleinigkeit verschmähendes Verständnis eröffnet sich die letzte und die allein wahre Einsicht ... Auch dem Bildhauer tritt erst aus mühevoller Arbeit, nach unzähligen Schlägen auf den Meißel das reine Bild hervor. Zu einer solchen Arbeit fordere ich Sie auf."5
Die Poesie und die Erhöhung des Menschengeschlechts
Jakob und Wilhelm Grimm kamen als zweites und drittes von insgesamt acht Kindern am 4. Januar 1785 (Jakob) und am 24. Februar 1786 (Wilhelm) im hessischen Städtchen Hanau zur Welt. Aus der Kindheit erinnert sich Jakob einer früh entwickelten Liebe zum Vaterland:
"Liebe zum Vaterland war uns, ich weiß nicht wie, tief eingeprägt, denn gesprochen wurde eben auch nicht davon, aber es war bei den Aeltern nie etwas vor, aus dem eine andere Gesinnung hervorgeleuchtet hätte; wir hielten unsern Fürsten für den besten, den es geben könnte, unser Land für das gesegnetste unter allen; es fällt mir ein, daß mein vierter Bruder, ... als Kind auf der hessischen Landkarte alle Städte größer und alle Flüsse dicker malte."6
Schon während ihrer Studienzeit faßten sie den Entschluß, mit Hilfe der Erforschung der Sprache und der Poesie des Altertums die Würde und hohe Bedeutung des einzelnen Menschen zu zeigen:
"Wir hatten eine lange schon genährte Neigung ausbildend unser Ziel auf Erforschung der einheimischen Sprache und Dichtung gestellt, welchen man doch die lebhafteste Anziehungskraft für junge Gemüter beilegen muß. Die Denkmäler und Überreste unserer Vorzeit rücken einem unbefangenen Sinn näher als alle anderen, scheinen unleugbar größere Sicherheit der Erkenntnis anzubieten und in alle Beziehungen des Vaterlandes einzugreifen. Der Mensch würde sich selbst geringschätzen, wenn er das, was seine Ureltern nicht aus eitlem, vorübergehendem Drang, vielmehr nach bewährter Sitte lange Zeiten hindurch hervorgebracht haben, verachten wollte. ... Gerade daß uns so viel zerbröckeltes, unvollendetes und lückenhaft aufbewahrtes vor Augen geführt wird, regt die Einbildungskraft an und Bruchstücke flößen uns ein Mitleiden ein, das sie zu betrachten und zu ergänzen auffordert ..."7
Schon 1805 rüsteten sich die europäischen Mächte zum dritten Koalitionskrieg gegen den französischen Aggressor, doch Napoleon überwältigte in den Schlachten bei Jena und Auerstedt Preußen, so daß dieses die Hälfte seiner Gebiete verlor und nach Osten über die Elbe gedrängt wurde. Napoleon gründete daraufhin den "Rheinbund" und das "Königreich Westfalen", zu dem auch Teile Hannovers, Kurhessens und Brandenburgs gezählt wurden. Auch Hessen hatte unter der Besatzung zu leiden. Schon am 1. November 1806 wurde die kurhessische Hauptstadt Kassel besetzt. Dort verwandelte sich das Kriegskollegium in kurzer Zeit in eine fürs ganze Land errichtete Truppenverpflegungskommission.
Jakob fiel nun, da er französisch sprach, ein großer Teil lästiger Verwaltungsgeschäfte zu. Unter diesen Umständen wollte er nicht länger arbeiten und suchte, sobald es möglich war, seine Entlassung. Da sich die gesamte Jurisprudenz immer mehr nach dem französischen Vorbild verwandelte, waren die Brüder auch nicht gewillt, in diesem Fache angestellt zu werden, doch irgendeine Arbeit zur Versorgung der Familie mußte gefunden werden. Da sie durch ihre Sprachforschungen mittlerweile große Literaturkenntnisse erworben hatten, ersuchten sie bei der Bibliothek in Kassel um eine Anstellung, die Jakob 1808 auf Empfehlung des Schaffhauser Sprachforschers Johann von Müller bei der Verwaltung der Privatbibliothek des Königs bekam. Kurze Zeit später erlangte auch Wilhelm eine Einstellung bei der Kasseler Bibliothek. In diesem Amt blieb ihnen viel Zeit für ihre Studien der altdeutschen Poesie und Sprache, welche auch bald Früchte trug.
Älteste Sprachschätze
Die Zeit in Kassel bezeichneten die Brüder als die fruchtbarste ihres Lebens. In beständiger gemeinsamer Arbeit beförderten sie die schönsten Schätze alten Kulturgutes wieder ans Licht.
Gemeinsam veröffentlichten sie im Jahre 1812 zwei Sprachdenkmäler, die beiden ältesten deutschen Gedichte aus dem 8. Jahrhundert, das "Weißenbrunner [= Wessobrunner] Gebet" und das "Lied von Hildebrand und Hadubrand". Bei letzterem handelte sich um ein Bruchstück des eigentlichen Gedichts und es war das einzige Überbleibsel epischer Gedichte aus der karolingischen Zeit. Erst die Brüder Grimm fanden heraus, daß es sich hier um Gedichte handelte. Außerdem war es nur in dieser einzigen Handschrift vorhanden. Goethe, den Wilhelm auf seiner Reise im Jahre 1810 in Weimar besucht hatte, nahm regen Anteil an den Arbeiten der Brüder. Wilhelm schreibt an ihn:
"Es bleibt als das älteste deutsche Gedicht und bei der Echtheit, die glücklicherweise keinem Zweifel unterliegt, immer sehr merkwürdig und gewährt, wenn auch nur einen, doch einen hellen Blick in die Bildung damaliger Zeit, welcher das Großartige, das den eddischen Gesängen eigen ist, auch natürlich gewesen zu sein scheint. Wäre ein ähnliches Werk, auch nur von geringem Umfang, aus jener Zeit übrig geblieben, es würde mehr Aufklärung nach allen Seiten daraus hervorgehen als durch die mühsamsten Arbeiten eines ganzen Menschenlebens."8
Das "Wessobrunner Gebet" ist ein Ganzes und kein Fragment, ein Gebet an Gott aus den ältesten Zeiten der beginnenden Christianisierung. Die Brüder bemerkten, daß die erste Hälfte des Gedichts fließend und poetisch geschrieben, die zweite aber holperig und zusammengesetzt sei. Sie erklärten dies damit, "daß es gar nicht unwahrscheinlich sei, daß dem Abfasser des Gebets Stellen, Redeweisen, ja Wörter aus einer altdeutschen poetischen Genesis vorgeschwebt haben, deren er sich hier zur Ausschmückung seiner Absicht bediente."9
Das Gedicht, in der Übersetzung durch die Brüder Grimm, lautet:
"Das gefrug ich bei (den) Menschen (mit) Fürwitz meistem
daß Erde nicht war, noch Aufhimmel,
noch Baum noch Berg nicht war, ...
noch einiger Stern, noch Sonne nicht schien,
noch Mond nicht leuchtete, noch Meeresee; (Ocean)
obgleich da nichts war, Ende noch Wende,
und doch (so) war der eine allmächtige Gott,
Männer mildester, und da waren auch manche bei ihm
göttliche Geister und Gott heilig,
Gott allmächtiger, du Himmel und Erde wirketest,
und du Menschen so manig Gut gabest,
gib mir in deiner Gnade rechten Glauben
und guten Willen, Weisthum und Klugheit,
und Kraft, Teufeln zu widerstehen,
und Arg zu vertreiben und deinen Willen zu wirken."
In diesen Jahren entstanden noch weitere bedeutende Arbeiten der Brüder: 1811 gab Jakob das Buch "Über den altdeutschen Meistergesang" und Wilhelm die wunderschönen "Altdänischen Heldenlieder, Balladen und Märchen" heraus. In der Vorrede sagt Wilhelm über diese alten Sprachdenkmäler:
"Die Quellen einheimischer Poesie werden eben wieder ausgegraben. ... An die alte Dichtung [des Nordens] hat man wenig gedacht, und doch hat die Sonne Homers auch über diese Eisberge ihren Glanz und über die bereiften Täler ihre Edelsteine ausgestreut ... So erscheint ein Reichtum an epischen Dichtungen ..., welche zu den tiefsinnigsten und gewaltigsten gehören, welche je durch die Seele des Menschen gegangen. ... Die andere Abteilung enthält Balladen und Märchen ... Hier sind alle Farben des Lebens ausgeteilt: Scherz, Lust, Mut, Üppigkeit, treue Liebe, Trauer und höchstes Leiden, und in der Tiefe ruhen die Geheimnisse eines schönen Glaubens, der die ganze Natur belebt und erhöht ... Wer in Seligkeit stirbt bei den Indern, aus dessen Leib geht eine Flamme und setzt sich auf die Lippen des Gottes; so ist, was göttlichen Ursprungs gewesen, auf die Lippen der Poesie geflogen, als das Sterbliche vernichtet wurde... Die Dichtung täuscht nie, in ihr liegt eine Mildigkeit und ein unversiegbarer Trost: sie führt uns aus dem Tale hinauf, und wir sehen über allen Wolkenzügen den blauen Himmel ewig fest stehen."10
Wilhelms Vorrede liest sich wie der Text zu einem schönen Lied. Im gleichen Jahr machen die Brüder einen weiteren Fund von unschätzbarem Wert: Sie finden eine Abschrift des zweiten Teils der sämundischen Edda, der ältesten nordischen Heldenlieder, welche Wilhelm noch älter als das Hildebrandlied ins 6. Jh. datierte. Goethe beglückwünschte sie zu diesem Fund.
"Zu der Abschrift des zweiten Teils der Edda-Sämundar ... wünsche ich Glück und verlange sehr nach Ihrer Übersetzung. ... Bleiben Sie überzeugt, daß ich an ihren Arbeiten einen lebhaften Anteil nehme und daß ich unter diejenigen gehöre, die sich immer des Gewinns, den Sie sich und uns auf diesem Felde verschaffen, aufrichtig erfreuen."11
Übersetzt heißt edda Poetik und ist der Name zweier verschiedener Werke der altisländischen Literatur. Die jüngere, prosaische hat den Namen Snorra-Edda, die ältere dagegen wird oft die poetische oder Sämundar-Edda genannt. Diesen Namen erhielt sie erst im 17. Jahrhundert von isländischen Gelehrten.
Die jüngere Edda ist zwischen 1220-1230 von Snorri Sturluson verfaßt und bildet ein Lehrbuch für junge Skalden [junge Dichter]. Sie ist eine Darstellung der nordischen Literatur und beinhaltet unter anderem die Bragarödhur (Reden des Dichtergottes Bragi) und die Skáldiskorparmál (Sprache der Dichtkunst).
Die sämundische Edda ist viel älter, wird teilweise dem 9. Jh. zugeordnet, ihr Entstehen geht aber in noch ältere Zeiten zurück, wie Wilhelm bemerkt. Sie ist eine Sammlung von 30 Liedern, die zu einem Teil der nordischen Mythologie, zum andern der nordischen und deutschen Heldensage angehört. Alle sind von Isländern gedichtet.
Eines der bedeutendsten Lieder ist zum Beispiel die Völuspá (Die Weissagung der Seherin), die Hauptzüge des späteren nordischen Götterglaubens trägt, an denen man aber auch schon den christlichen Einfluß bemerken kann; außerdem enthält sie eine Liedersammlung über gute Lebensregeln.
Früheste Zeugnisse des Christentums
Überhaupt ist der Rückblick in die alten Erzählungen und Lieder auch ein schönes Zeugnis für die Entwicklung des Glaubens, den Übergang vom Heidentum mit seiner Vielgötterei zum Christentum, der in Sachsen bereits im 9. Jahrhundert vollzogen war, in manchen nordischen Ländern aber bis ins zwölfte Jahrhundert dauerte.
Die Sagen, Heldenlieder und Mythen sind - ebenso wie die Gesänge Homers für die vorchristlichen Kulturen des Mittelmeerraumes - ein lebendiger Beweis dafür, daß auch die nordischen Völker schon vor der von "außen" kommenden Christianisierung einen kritischen Blick auf die Götterwelt entwickelten, der teilweise bis zur Verachtung reichte. Die eigene Kraft und Freiheit des Geistes, die im Christentum den Rang des "Menschen als Gottes Ebenbild" erhielt, bekam durch den Beginn der selbstreflexiven Betrachtung des Menschen eine wachsende Bedeutung. Jakob Grimm zeigt dies in seiner "Deutschen Mythologie" an mehreren Beispielen:
"Wir dürfen annehmen, wenn schon das heidenthum noch eine zeitlang lebendig hätte wuchern, gewisse eigenthümlichkeiten der völker, die ihm ergeben waren, schärfer und ungestörter ausprägen können, dazs doch ein keim des verderbens und der verwirrung in ihm selbst lag, welcher es ohne dazwischentritt der christlichen lehre zerrüttet und aufgelöst haben würde. ich vergleiche das heidenthum einer seltsamen pflanze, deren farbige, duftende blüte wir mit verwunderung betrachten, das christenthum der weite strecken einnehmenden aussaat des nährenden getraides. auch den Heiden keimte der wahre gott, der den Christen zur frucht erwuchs."12
Und in der Fußnote zeigt er an Beispielen, wie "bemerkenswerth die altnordischen sagen und lieder (sind), worin der götter derb gespottet wird, ... der glaube ist schon geschwächt, wenn ein kühner dichter Odinn und Freya mit hunden vergleicht, ... ein andrer die götter rangeyg und rokindusta (schielend und ungerecht) nennt ..."13
Die Romantiker zählen die Grimms gerne zu den ihren, doch dies rührt von einer völlig oberflächlichen Betrachtungsweise her, wie es eben der Romantik eigen ist. Jakob und Wilhelm ging es nie darum, nostalgisch für die guten alten Zeiten zu schwärmen, sie zu verherrlichen oder gar wieder heraufzubeschwören - wie es ihre Freunde Clemens Brentano oder Achim von Arnim wollten, sondern es ging ihnen schlicht um eine liebevolle, historische Betrachtung der geistigen Geschichte des Menschen. Daß ihre Herangehensweise sich völlig von der dieser Romantiker unterschied, erkannten sie sehr bald. Jakob schreibt bereits 1809 an Wilhelm:
"Dieser Geist von Sammeln und Herausgeben alter Sachen ist es doch, was mir bei Brentano und Arnim am wenigsten gefällt, beim letzterm noch weniger, Clemens anregende Bibliothek hat wohl alles das hervorgebracht. Die Auswahl ist gewiß vortrefflich, die Verknüpfung geistreich, die Erscheinung für das Publikum angenehm und willkommen, aber warum mögen sie fast nichts tun als compiliren und die alten Sachen zu recht machen. Sie wollen nichts von einer historischen genauen Untersuchung wissen, sie lassen das Alte nicht als Altes stehen, sondern wollen es durchaus in unsere Zeit verpflanzen, wohin es an sich nicht mehr gehört, nur von einer bald ermüdeten Zahl von Liebhabern wird es aufgenommen."14
Und über Friedrich Schlegels Werk fällt Wilhelm in einem Brief an Jakob aus demselben Jahr das vernichtende Urteil - vernichtend deshalb, da man wissen muß, daß beide zu den größten Sammlern aller nur greifbaren Literatur, auch der zeitgenössischen gehörten, so daß in ihrer beträchtlichen Privatbibliothek selten ein Werk nicht zu finden war:
"Friedrich Schl. Werke, Gedichte, hab ich durchgeblättert, und nun nachdem alles zusammen ist, recht gesehen, daß er kein Dichter. Es ist nichts gerad zu ansprechendes, erquickliches darin, und ich mag das Buch nicht haben..."15
Die Märchen: eine längst vergangene Poesie ...
Das Vermögen zu denken und zu sprechen ist auf das engste miteinander verknüpft. Die Sprachen des Altertums zu entdecken heißt daher auch, das Denken - und Empfinden - des Menschen zurückzuverfolgen, denn die Sprache ist immer ein Spiegel für den Gedankenreichtum oder die "Phantasie" eines Volkes. Einmal stockt ihre Entwicklung und wird durch Barbarei niedergehalten, ein andermal blühen Poesie und Kunst in reicher schöner Weise, ja die Sprache ist Werk und Tat der Menschen und zeigt die Tugenden und auch die Mängel ihrer Natur. Aber auch das beständige Streben nach Freiheit leuchtet hervor, und das Verlangen, die Wahrheit in den Dingen zu finden, sowie ein unerschütterlicher Glaube an eine ewig wirkende Macht, die bewirkt, daß das Gute, Wahre und menschlich Schöne, die "Sache der Menschheit" am Ende doch gewinnt. Daher zeigen uns Mythen, Sagen, Märchen und Fabeln einen Weg, das menschliche Denken in seinem Entwicklungsgang zu erkennen.
So begannen die Brüder schon früh, im Volke überlieferte Erzählungen zu sammeln, die Märchen. Sie sind nichts "Erfundenes" oder "Erdichtetes", sondern Zeugnisse der Überzeugungen und des Denkens der Menschen aus ältesten Zeiten. Bereits im Jahre 1812 erschien der erste Band der "Kinder- und Hausmärchen". In der Vorrede hierzu vom 18.10.1812 beschreibt Wilhelm diesen glücklichen Fund einer längst vergangenen Poesie:
"Wir finden es wohl, wenn Sturm oder anderes Unglück, vom Himmel geschickt, eine ganze Saat zu Boden geschlagen, daß noch bei niedrigen Hecken oder Sträuchen, die am Wege stehen, ein kleiner Platz sich gesichert und einzelne Ähren aufrecht geblieben sind. Scheint dann die Sonne wieder günstig, so wachsen sie einsam und unbeachtet fort; keine frühe Sichel schneidet sie für die Vorratskammern, aber im Spätsommer, wenn sie reif und voll geworden, kommen arme fromme Hände, die sie suchen; und Ähre an Ähre gelegt, sorgfältig gebunden und höher geachtet als ganze Garben werden sie heimgetragen, und winterlang sind sie Nahrung, vielleicht auch der einzige Samen für die Zukunft. So ist es uns, wenn wir den Reichtum deutscher Dichtung in frühen Zeiten betrachten und dann sehen, daß von so vielem nichts lebendig erhalten, selbst die Erinnerung daran verloren war und nur Volkslieder und diese unschuldigen Hausmärchen übriggeblieben sind. ...
Es war vielleicht gerade Zeit, diese Märchen festzuhalten, ... denn die Sitte darin nimmt selber immer mehr ab, wie alle heimlichen Plätze in Wohnungen und Gärten einer leeren Prächtigkeit weichen. ... ja auch das hat diese Poesie mit allem Unvergänglichen gemein, daß man ihr selbst gegen einen andern Willen geneigt sein muß ...
So einfach sind die Situationen, daß viele sie wohl im Leben gefunden, aber wie alle wahrhaftigen doch immer wieder neu und ergreifend ... Alles Schöne ist golden und mit Perlen bestreut, selbst goldene Menschen leben hier, das Unglück aber ist eine finstere Gewalt, ein ungeheurer menschenfressender Riese, der doch wieder besiegt wird, da eine gute Frau zur Seite war, welche die Not glücklich abzuwenden weiß, und dieses Epos endigt immer, indem es eine endlose Freude auftut. ... Wir übergeben dies Buch wohlwollenden Händen, dabei denken wir überhaupt an die segnende Kraft, die in diesen liegt, und wünschen, daß denen, welche diese Brosamen der Poesie Armen und Genügsamen nicht gönnen, es gänzlich verborgen bleiben möge."16
Bald nach dem ersten Band folgte ein zweiter, und die Märchen wurden in viele Sprachen der Welt übersetzt, so daß unzählige Kinder bis auf den heutigen Tag mit ihnen aufwachsen. Schon früh hatten die Brüder mit der unermüdlichen Suche nach alten Erzählungen begonnen. Gute Freunde halfen ihnen dabei, besonders die Geschwister von Haxthausen, und auch die befreundete Familie Droste in Höxter, von deren beiden Töchtern eine die später bekannte Dichterin Annette (Anna Elisabeth) von Droste-Hülshoff war. Aus dieser Zeit gibt es einen schönen Briefwechsel zwischen dem Jenny, Annettes Schwester, und Wilhelm Grimm.
Im einfachen Volk war es sehr verbreitet, daß man Geschichten erzählte, die sich durch alle Generationen überliefert hatten. Die Brüder hatten beschlossen, den über Jahrhunderte überlieferten Kulturschatz zu heben. Gleichzeitig regten sie auch die Sprachforscher in anderen Ländern an, diesen Schatz einer oft Jahrhunderte zurückliegenden Poesie ihres eigenen Volkes wieder ans Tageslicht zu befördern, und viele davon wären ohne ihren Anstoß sicher längst vergessen und verloren. Daher kam es, daß bald darauf irische, isländische, dänische, serbische, italienische, ja auch indische und chinesische, und viele andere Märchen wiedergefunden wurden, die die Vermutung der Brüder Grimm bestätigten, daß sich hierin die ältesten Sitten, Gebräuche und Glaubensvorstellungen der Menschen offenbarten.
"Tragen wir einen Dank davon für alle Mühe und Sorge, der uns selbst zu überdauern vermag, so ist es der für die Sammlung der Märchen, die nicht nur eine unverwüstliche Nahrung für die Jugend und jeden unbefangenen Leser darbieten, sondern auch, wie die durchdringende Einsicht gelehrt hat, einen großen und der Forschung unentbehrlichen Schatz des Altertums in sich bewahren. Dieser Wünschelrutenzweig fiel uns glücklich in die Hand und seit wir damit in den Boden geschlagen haben, ist allerorten ein reicher Hort der Sage und Überlieferung an den Tag gekommen. ... Sie sind alle nichts Erdachtes, Erfundenes, sondern des ältesten Volksglaubens ein Niederschlag und unversiegende Quelle der eigentlichen lautersten Mythen."17
Nach der Herausgabe des ersten Bandes, der einen großen Anklang fand und dessen 900 Exemplare des Erstdrucks schnell vergriffen waren, wuchs der Sammeleifer über die nähere Umgebung hinaus. So erfuhren sie aus Zufall von einer Bäuerin, genannt die Viehmännin, aus dem nahe bei Kassel gelegenen Dorf Zwehren, die einen ansehnlichen Teil beisteuern konnte. Sie erzählte frei und sicher, wenn der Zuhörer es wünschte, alles noch einmal von vorne und so langsam, daß die Brüder mitschreiben konnten. Auch bei den anderen Märchenerzählern hatten sie erfahren, daß man keinen Zweifel an der Echtheit der Überlieferung oder an der langen Aufbewahrung aus alten Zeiten beim Volk haben brauchte, denn auch diese "Zwehrener Märchenfrau" blieb immer der gleichen Erzählung treu, ja korrigierte oft mitten in ihrer Rede die kleinsten Abweichungen.
... und die "Urgemeinschaft" der Völker
Wann begann der Mensch zu sprechen? Hat sich die Sprache seit den ersten Menschen langsam herausgebildet wie bei einem Kind? Oder wurde sie dem Menschen bei der Schöpfung mitgegeben? In seiner Untersuchung "Über den Ursprung der Sprache" erläutert Jakob Grimm seine Hypothese, daß die Sprache dem Menschen nicht von Anfang an "gegeben" sein kann, sondern daß der Mensch sie durch sein Denken erst erschaffen haben muß, d.h. sobald der Mensch dachte, sprach er auch:
"Von allem, was die Menschen erfunden und ausgedacht, bei sich gehegt und einander überliefert, was sie im Verein mit der in sie gelegten und geschaffenen Natur hervorgebracht haben, scheint die Sprache das größte, edelste und unentbehrlichste Besitzthum. Unmittelbar aus dem menschlichen Denken empor gestiegen, sich ihm anschmiegend, mit ihm Schritt haltend ist sie allgemeines Guth und Erbe geworden aller Menschen, das sich keinem versagt, dessen sie gleich der Luft zum Athmen nicht entrathen können, ein Erwerb, der uns zugleich schwer und leicht fällt. Leicht, weil von Kindesbeinen an die Eigenheithen der Sprache unserm Wesen eingeprägt sind und wir unvermerkt der Gabe der Rede uns bemächtigen, wie wir Gebärden und Mienen einander absehen, deren Abstufung endlos ähnlich und verschieden ist gleich der Sprache. Poesie, Musik und andere Künste sind nur bevorzugten Menschen, die Sprache ist unser aller Eigenthum, und doch bleibt es höchst schwierig, sie vollständig zu besitzen und bis auf das innerste zu ergründen."18
Die meisten der europäischen Sprachen haben sich aus dem Sanskrit entwickelt und man muß ihren Ursprung viele Jahrtausende zurücklegen, dorthin, als das Denken des Menschen begann. Denn die Sprache ist ein Ergebnis des menschlichen Denkens. Die Brüder waren fest davon überzeugt, daß sich Poesie, Sagen und Mythen bei allen Völkern in ganz charakteristischer, eigentümlicher Weise entwickelt haben mußten. Die Erzählungen der nordischen Länder konnten nicht aus denen der Griechen oder Römern entstanden sein, wie es behauptet wurde und sogar heute noch teilweise wird. Nein, bei allen Sprachzeugnissen handelt es sich um eigenständige, sich aus der Ursprache in eben diesem spezifischen Volke entwickelte Erzählungen, Gedichte und Lieder. Jakob Grimm hat diese Tatsache in allen seinen Werken klarzumachen versucht, wobei er sich über die hohe Bedeutung der gesamten griechischen Kultur- und Wissenschaftstradition durchaus bewußt war.
"Nicht sollen die griechischen Götter gestürzt werden, sondern fortwohnen in ihren heiteren Hallen, nur muß die Ansicht weichen, als sei erst von Griechenland aus oder vom Morgenland her Glaube und Wissen unter alle Völker gedrungen ... Der Vorbereitungswege können gar manche gedacht werde, ... Zusammenhänge mit Spuren der Naht sind an mehr als einer Stelle sichtbar - ich halte fest an einsichtbarem Vollgeheimnis - die für Sprache wie Sage stattgefunden haben, und der Hauptgründe einen lehren mich meine Forschungen über die Tierfabel, die wir unter Littauern, Esten, Finnen, Lappen und allen tiefen Slaven so reich entfaltet sehn, daß an Entlehnung aus dem unter diesem Gesichtspunkt magern Aesop ferner gar nicht zu denken ist, so weit er sich verbreitet haben können. Statt daß die Missionare früherhin immer die Heilige Schrift zur Grundlage wählten, um für die Sprache der Heiden Sammlungen zu veranstalten, wird wie schon Beispiele darthun, Erzählung von Märchen ein natürliches, lebhaftes Element darreichen, um sich anschaulicher an die Eigenheith aller Volksmundarten zu schmiegen und damit geschieht durch die Sagensammlung der Aufnahme des Sprachstoffs ein unberechenbarer Vorschub."19
Wer Märchen kennt, der weiß auch, daß es nicht wenige gibt, die sich sehr ähnlich sind, obwohl sie aus weit entfernten Ländern stammen, so, als wenn sie von einem Menschen erzählt worden wären. Dies hat mit dem von Jakob angesprochenen "Vollgeheimnis" zu tun. Wir wollen dies am folgenden Beispiel betrachten.
Jakob und Wilhelm Grimm haben versucht, der "Urgemeinschaft" der Sprachen näher auf den Grund zu gehen und untersuchten dabei auch auffällige Ähnlichkeiten in Märchen, Sagen oder auch Tierfabeln.
Ein schönes Beispiel dafür stellt die Erzählung "Der Traum vom Schatz auf der Brücke" aus dem 12. Jh. dar. Jakob nannte sie "Karlmeinet", da sie u.a. auch ein Gedicht über die Jugend Karls des Großen beinhaltet. Der Verfasser erzählt von einem Erlebnis Hoderichs und Hanfrats. Ein Zwerg trägt Hoderich immer wieder eindringlich auf, unverzüglich nach Paris zu reisen und auf eine bestimmte Brücke zu gehen, "da sollstu lieb und leid vernehmen, wie es dir ergehen wird, mehr sag ich nicht". Da der Zwerg immer wieder erscheint, macht sich Hoderich schließlich auf den Weg nach Paris, setzt sich dort auf diese bestimmte Brücke und wartet. Nach einiger Zeit kommt ein Wechsler, der seinen Geschäften nachgeht, grüßt und fragt ihn, woher er sei und was er suche. Hoderich erzählt ihm ausführlich von seinem Traum, worauf dieser verständnislos den Kopf schüttelt und schimpft:
"Ich sehe wohl, daß du ein Tor bist, auch zu mir trat voriges Jahr mitternachts ein ungestümer Zwerg an mein Bett, hieß mich aufstehen und nach dem Dorfe Balduch wandeln, wo ich bei einer grünen Weide am Bach einen so reichen Schatz finden solle, wie er sonst nirgendwo gefunden sei. Wäre ich aber dumm genug gewesen, um eines Zwerges willen so einen Gang zu tun, ich hätte hart mit Stäben geschlagen zu werden verdient. Dir einfältigem, weil du dich hast verleiten lassen dem Geschwätz eines Zwerges zu folgen, gebührt von meiner Hand zum Lohne ein Backenschlag." Und er versetzte Hoderich einen gewaltigen Schlag und rief wütend: "Gehï hin, dummer Geck, daß dir die Kränke in den Nacken fahre ..."20
Und der Wechsler steigerte sich immer mehr in seine Wut, so daß Hoderich eiligst die Flucht ergriff, sonst hätte er noch mehr Hiebe bekommen. Er hatte aber gut auf die Worte des Wüterichs aufgepaßt und ging eilig zurück in sein Heimatdorf Balduch und fand tatsächlich unter seiner eigenen, wohlbekannten grünen Weide den Schatz.
Im Jahre 1537 berichtete Agricola (Johann Schnitter, 1494-1566) von einem Sprichwort, in dem einer einen Traum gehabt habe, er solle nach Regensburg auf die Brücke gehen, da solle er reich werden. In einer Erzählung aus "Baaders badischen Sagen" kommt ähnliches vor, diesmal mit der Neckarbrücke zu Heidelberg. Nach einer Schleswiger Sage ist der Träumende aus Erritsö bei Fridericia und begibt sich zur Brücke zu Veile im Friesenland. Ähnliche Schilderungen existieren in England, Schottland und Irland. In den "Fireside stories" von Chambers träumt Dundonald dreimal, daß er reich werde, wenn er nach Londonbridge gehe. In einer Sammlung mährischer Sagen findet man eine ähnliche Erzählung von einem Soldaten und der Prager Brücke.
Es fand sich sogar ein persisches Werk, genannt Mesnevi, was soviel wie die "Doppelverse des Dichters Dschelâleddin Rumi" heißt. Dieser Dichter wurde im Jahre 1207 unserer Zeitrechnung geboren und starb 1273. Seine Erzählung wurde später mit türkischem Kommentar herausgegeben. Er erzählte die Geschichte eines Mannes aus Bagdad, welchem träumte, daß er an einem gewissen Ort in Kairo einen Schatz finden werde. Als er aber in Kairo an dem im Traum angedeuteten Platze wartet, geschieht ihm eine ähnliche Beschimpfung wie dem Manne auf der Brücke und ihm wird in gleicher Weise wie dort haargenau sein eigenes Haus in Bagdad beschrieben, in dessen Garten der Schatz zu finden sei.
Diese merkwürdigen Übereinstimmungen bewiesen den Brüdern immer wieder den gemeinsamen Ursprung der Sprachen, die eigentümliche Behandlung gleicher Themen, aber auch die mannigfaltige, nach eigenem Charakter erfolgte Ausbildung einer jeden Sprache. Jakob sagt dazu in einer Vorlesung an der Berliner Akademie, als er über die Neuentdeckung des "Karlmeinet" berichtet:
"Der Traum von der Brücke zu Prag gleicht dem von der Brücke zu Paris, ungefähr wie unser zehn, das französische dix, das slavische deset etymologisch auf demselben Grunde stehn, ohne daß etwas von dem andern entlehnt zu sein braucht. ... Das Märchen von Rampsinits Turm bei Herodot findet sich an sechs Stellen anderwärts immer mit Abweichungen, die bald blässer bald frischer erzählen. Welcher Mythenforscher wollte es nach Asien und Europa erst aus Ägypten eingebracht wähnen? In der Tat die Ähnlichkeit der einzelnen, weit verstreuten Gebilde erfreut desto mehr und scheint desto lebendiger, je weniger sie auf nachweisbares, ermattendes Borgen zurückgeht, vielmehr auf dem tieferen kaum zu erkennenden Hintergrund eines allen gemeinsamen frischgebliebnen Ursprungs."21
Auch hatten sie so manches schöne Erlebnis, denn die Märchen erfreuten sich nicht nur bei den alten Freunden großer Beliebtheit, sondern gewannen auch viele Kinderherzen. Einmal (als sie schon in Berlin lebten) kam ein kleines Mädchen zum Hause der Grimms, wurde von Wilhelms Frau Dortchen zuerst zu Jakob und dann zu Wilhelm geführt. Es hatte sein Märchenbuch unter dem Arm und fragte "Darf ich Ihnen etwas daraus vorlesen?", und las dann das Märchen gut und mit natürlichem Ausdruck vor, an dessen Schluß "wer's nicht glaubt, bezahlt einen Taler" steht. Darauf sah es an ihm hoch und sagte "Da ich es nun nicht glaube, so muß ich Ihnen einen Taler bezahlen, ich erhalte aber nicht viel Taschengeld und kann es nicht auf einmal abtragen" und holte aus seinem kleinen rosa Geldtäschchen einen Groschen und reichte ihn Wilhelm hin. Dieser sagte: "Ich will dir den Groschen wiederschenken." "Nein!", antwortete es, "die Mama sagt, Geld dürfe man nicht geschenkt nehmen." Dann verabschiedete es sich artig.
Das Märchenbeispiel vom "Schatz auf der Brücke" sowie andere von den Brüdern angeführte Beispiele zeigen, daß, so Jakob, "die Sprachen eine in die Geschichte gegangene Gemeinschaft sind und die Welt aneinanderknüpfen. Ihre Mannigfaltigkeit eben ist bestimmt, den Ideengang zu vervielfachen und zu beleben." Und diese ursprüngliche Gemeinschaft bezeugt das Allgemeingut aller Menschen, aller Völker - das Denken, die Wahrheit und das Naturgesetz.
Fußnoten:
1) Mehr dazu bei David Shavin: "Leibniz to Franklin on Happiness", in Fusion, Nr. 3, 2003
2) Gottfried Wilhelm Leibniz: "Von der Weisheit", in Deutsche Schriften, I 420-26
3) Jakob Grimm: "Über den Ursprung der Sprache", in Ausgewählte Schriften, dtv 1984
4) ebd.
5) Wilhelm Grimm, Vorlesung an der Berliner Akademie, 1843
6) Jakob Grimm: "Selbstbiographie", in Ausgewählte Schriften, dtv 1984
7) ebd.
8) Wilhelm Grimm an Goethe, 18.6.1811, in Hermann Gerstner Die Brüder Grimm
9) Brüder Grimm: "Die beiden ältesten deutschen Gedichte aus dem 8. Jahrhundert", Kassel 1812
10) Wilhelm Grimm: "Altdänische Heldenlieder, Balladen und Märchen", 1811
11) Brief Goethes an Wilhelm Grimm, 18.8.1811, in Gerstner Die Brüder Grimm
12) Jakob Grimm: "Deutsche Mythologie", Einleitung S. 6
13) ebd.
14) "Briefwechsel zwischen Jakob und Wilhelm Grimm", 1809
15) ebd.
16) Jakob und Wilhelm Grimm: "Kinder- und Hausmärchen", Band I, Vorwort
17) Jakob Grimm: "Rede auf Wilhelm Grimm", Berliner Akademie, 1860
18) Jakob Grimm: "Über den Ursprung der Sprache", Berliner Akademie, 1860
19) Jakob Grimm: "Rede auf Wilhelm Grimm", Berliner Akademie, 1860
20) Jakob Grimm: "Kleine Schriften"
21) Jakob Grimm: "Kleine Schriften"
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