Oktober 2003, Teil 2:
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Die Gebrüder Grimm

Im ersten Teil der Ausführungen von Caroline Hartmann ging es um die herausragenden philologischen Beiträge der Brüder Jakob und Wilhelm, im Zeiten erleben wir die beiden als Politiker und mutige Staatsbürger und im dritten Teil, der unten anschließend in diesem zweiten Teil aufgeht, stehen das politische Engagement Jacob Grimms und die letzten Arbeiten der Brüder im Mittelpunkt

Der deutsche Adler wird freigelassen
Nach dem Sieg über Napoleon hofften auch die beiden Grimms auf eine Verwirklichung der Freiheit des einzelnen und seiner Menschenrechte sowie des Rechts souveräner Staaten auf eigenständige wirtschaftliche Entwicklung.

Bildunterschrift: "Meine Herren - aufgepaßt - ich glaube, er beißt!"



Die Befreiungskriege und der Kampf um eine Verfassung

Napoleon wütete in ganz Europa, besonders aber in den deutschen Ländern. In den Schlachten bei Jena und Auerstedt hatte er Preußen besiegt, das die Hälfte seines Gebietes verlor und Richtung Osten gedrängt wurde. Der König mußte aus der Hauptstadt nach Königsberg fliehen. Wilhelm berichtete aus Berlin: Napoleon schuf Zweckbündnisse wie den Rheinbund und das Königreich Westfalen, vertrieb die Landesfürsten und forderte Truppen, Munition und Verpflegung aus den Gebieten, so daß sich nicht selten deutsche Soldaten gegenseitig bekämpfen mußten. In die verwaisten Pfründe zogen französische Adelige, oft Verwandte Napoleons, und übten ihre Willkür aus. Bereits am 1. November 1806 wurde die kurhessische Hauptstadt Kassel besetzt, der Herzog mußte fliehen. Jakob, der auf Empfehlung des Schaffhauser Sprachforschers Johannes von Müller eine Anstellung als Bibliothekar in der Privatbibliothek des neuen Königs von Hessen erhalten hatte, des leichtlebigen jüngsten Bruders Napoleons, Jérôme, erinnert sich an diese Zeit: Die Menschen verbanden den Befreiungskampf gegen Napoleon direkt mit der Verwirklichung der Ideen von Freiheit und Gleichberechtigung, welche in den amerikanischen Unabhängigkeitskriegen 1776-83 erfolgreich errungen worden war. Bereits 1809/1810 erlitt Napoleon seine erste Niederlage in der Schlacht bei Aspern. Doch blieb dieser erste Sieg der einzige Hoffnungsschimmer; denn Napoleon zog siegreich weiter und stand im Sommer 1812 mit mehr als einer halben Million Soldaten an der Grenze zu Rußland.

Die Arbeit wurde in diesen drückenden Zeiten oft schwer, trotzdem machten die Brüder unermüdlich weiter, ja ihre Idee, die poetischen Schätze des Altertums aufzusuchen, zu sammeln und der Zukunft zu erhalten, wurde in der Zeit der schweren Unterdrückung, welche alle Hoffnung erst einmal zunichte machte, gestärkt:

Die Ereignisse des Jahres 1813 ließen die Menschen aufatmen und neue Hoffnung schöpfen. Napoleon erfuhr in Rußland eine furchtbare Niederlage und mußte aus dem brennenden Moskau den Rückzug antreten. Im Oktober 1813 wurde er von den Völkerheeren Preußens, Österreichs und Englands bei Leipzig endgültig besiegt. In Deutschland lösten sich seine Zweckschöpfungen Rheinbund und das Königreich Westfalen wieder auf, und die vertriebenen Fürsten kehrten in ihre Residenzen zurück. Die Freiheit Europas ist von den Völkern, den Menschen erstritten worden, und das erfolgreiche Ende des Krieges war nicht das Verdienst der Fürsten und Kabinette, die das Befreiungswerk durch ihren Kleinmut, Eigennutz, Neid und Mißtrauen oft genug noch in Gefahr brachten. Bei den Siegesverhandlungen ging es nun darum, die großen Ideen eines freieren Staates durchzusetzen. Als der Wiener Kongreß begann, setzten viele Menschen große Hoffnungen in ihn.

Der Wiener Kongreß und der Verrat an der Freiheit

Nachdem Napoleon ihr Friedensangebot abgelehnt hatte, rückten die verbündeten Mächte Östereich, Preußen und Rußland in Frankreich ein. Das Hauptheer unter Schwarzenberg überschritt bei Basel den Rhein, Blücher bei Mannheim, Kaub und Koblenz, und Bülow drang mit seiner Nordarmee von der Mosel aus vor. Am 31. März zogen die gemeinsamen Truppen in Paris ein, Napoleon wurde gestürzt und nach Elba verbannt und am 30. Mai 1814 der erste Pariser Friede geschlossen.

In den letzten Monaten des Krieges, als sich der Sieg der Verbündeten bereits abzeichnete, hatten die Kräfte des mächtigen europäischen Finanzadels unter Federführung des Fürsten Clemens von Metternich den Vorschlag eines allgemeinen "Friedenskongresses" vorgelegt, an dem alle beteiligten Mächte teilnehmen sollten, einschließlich aller deutschen Fürstenhäuser und Vertreter der Kleinstaaten. Welch nonchalante Idee, welch trickreiche Inszenierung! Das hörte sich so freundlich und großmütig an, die drängenden Fragen von Einigkeit und Menschenrechten gemeinsam am runden Tisch zu regeln!

Die Gesandten der 38 souveränen Staaten des Deutschen Bundes hatten nun die Aufgabe, ihre Interessen zu verhandeln und die großen Ideen von Freiheit, Einigkeit und eigenständigen Verfassungen nach Möglichkeit durchzusetzen. Das hört sich einfach an, doch gab es zu diesen Themen mindestens 38 verschiedene Meinungen und Ziele! Alle großen Erwartungen der Freidenkenden zerplatzten wie Seifenblasen in den endlosen Verhandlungen, Streitereien und von der Sache ablenkenden, ausgelassenen Vergnügungen.

Jakob Grimm ist als Begleiter des hessischen Gesandten während des gesamten Kongresses ein unschätzbarer Zeitzeuge, der aus nächster Nähe miterlebte, wie sich in Wien die republikanischen Hoffnungen in Luft auflösten. Zu Neujahr 1814 trat er die Reise an, und seine erste Aufgabe bestand darin, in Paris die von den Franzosen aus der Kasseler Bibliothek entwendeten Bücher wieder heimzuholen. In Frankfurt am Main hielt er sich im Hauptquartier der verbündeten Mächte auf. Die Idee eines großen "Friedenskongresses" war bereits von allen angenommen, deshalb begannen bereits hier die heftigen Diskussionen.

Einen tiefblickenden Eindruck von diesem monströsen Kongreß vermitteln schon die ersten Briefe Jakobs aus Wien. Die alten Herrscherhäuser hatten bereits im Vorfeld vereinbart, dem Volk möglichst keinerlei Zugeständnisse in Sachen Verfassung oder des Rechts auf Mitbestimmung zu gewähren sowie alle ihren Status bedrohenden und ihrer Macht gefährlich werdenden freiheitlichen Ideen weitgehend auszutilgen. So entartete dieser Kongreß zu einer Farce, bei dem die Gesandten und hoffnungsfrohen Vertreter des Volkes einerseits durch endlose Verhandlungen um kleingeistige Gebietsstreitereien der Adelshäuser schläfrig gemacht, andererseits durch tagtägliche Festivitäten und Belustigungen von der Diskussion der wichtigen Fragen abgelenkt wurden.

Es stellte sich schnell heraus, daß die großen Mächte, wie Österreich und Rußland, aber auch die Könige und Fürsten der deutschen Staaten, Angst hatten vor den Entscheidungen über "die deutschen Angelegenheiten" bzw. die Reformideen großer Teile des Volkes zur Einrichtung von Verfassungen in den 38 deutschen Staaten. Zuerst trennte man diese also von den eigentlichen Verhandlungen ab und verschob sie; dann aber diskutierte man sie doch: Es war ein "Gewirr von Grobheiten, Welthöflichkeiten, Intrige, Verschlossenheit und Leichtsinn", in das sich alle immer mehr verstrickten und auch verstricken ließen. Außerdem wurden immer mehr gerade diejenigen Vertreter der Länder aufgehetzt, denen es nur um Machtvergrößerung ging. Dadurch entbrannten neue, langwierige Streitereien über die Herausgabe oder Wiedererlangung von Landstrichen, vor allem zwischen Preußen, Sachsen, Österreich, Bayern und Württemberg, so daß es beinahe einen Bürgerkrieg auslöste: Briefe gehen verloren28, Berichterstattungen Jakobs über die Zustände beim Congreß an Görres, den Herausgeber des Rheinischen Merkur, werden nur teilweise gedruckt, und die finanzielle Lage ist schlecht. Außerdem ziehen sich die Tagungen immer mehr in die Länge: Aber der Kongreß zog sich noch länger hin, so daß erst im Juni 1815 endgültig die Heimreise angetreten werden konnte. Hier faßte Jakob den Entschluß, sich so schnell wie möglich aus dem diplomatischen Dienst zurückzuziehen. Alle Menschen, die begeistert an den Freiheitskriegen teilgenommen hatten, waren mit den Ergebnissen des Wiener Kongresses unzufrieden. Viele hatten sich eine einheitlichere Form des Deutschen Bundes mit einer stärkeren Zentralgewalt gewünscht, andere verlangten von den einzelnen deutschen Regierungen Verfassungen, welche dem Volk ein Mitspracherecht im Staat sichern sollten. Keine dieser Forderungen konnte beim Kongreß durchgesetzt werden. Man fühlte sich mit Recht verraten und verkauft, zumal unter Führung des russischen, preußischen und österreichischen Königs im September 1815 die "Heilige Allianz" geschlossen wurde, mit der dann die Wiederherstellung der absolutistischen Staatssysteme einherging. Weiterhin wurde das Volk, das sich nach freiheitlichen Rechten sehnte, von ihr angeblich "zum Zwecke des Friedens" betrogen.

Durch die allgemeine Unzufriedenheit bekamen die 1815 in Jena gegründeten Burschenschaften und die von Jahn ausgehenden Turnschulen immer mehr Zulauf. Die nationalen und freiheitlichen Bestrebungen der Studenten fanden auf dem Wartburgfest 1817 ihren Höhepunkt. Doch die Herrschenden reagierten auf die "demagogischen Umtriebe" mit Gewalt, die Teilnehmer wurden auf das Ärgste und Bitterste verfolgt, und mit dem Erlaß der sogenannten Karlsbader Beschlüsse zwei Jahr später wurde die Kontrolle an den Universitäten, die Kontrolle der Presse und aller politischer Aktivitäten und Äußerungen derart verschärft, daß man "von der Ruhe eines Kirchhofs" sprechen konnte.

Dies wirkte sich vor allem auf die Freiheit der Lehre an den Universitäten aus. Jakob Grimm sah darin eine für die Zukunft verheerende Folge:

Entgegen der Volksstimmung, die deshalb immer mehr die Einschränkung fürstlicher Gewalt forderte, brachten die Monarchenkongresse zwischen 1820 und 1822 in Troppau, Leibach und Verona eher eine Stärkung des absolutistischen Systems. Umsturzversuche wurden mit Waffengewalt niedergehalten, österreichische Truppen schritten gegen revolutionäre Bewegungen in Italien ein, und im Einverständnis mit Preußen, Rußland und Österreich restaurierte ein französisches Heer in Spanien sogar die absolute Königsgewalt.

Der Ruf nach Göttingen

Nach der Rückkehr Jakobs aus Wien - die Brüder waren nun beide als Bibliothekare in Kassel beschäftigt - widmeten sich die beiden ihren Forschungen. Trotz der politischen Rückschläge begann für sie eine ruhige, arbeitsame Zeit, in der viele neue Projekte entstanden und vollendet wurden. Vor allem ist hier die zweite Ausgabe der Märchen und Jakob Grimms Deutsche Grammatik zu nennen, worin er auf die bis zweitausendjährigen Quellen der Sprache zurückgreift. Mit seiner Deutschen Grammatik schuf Jakob eine Geschichte der Sprache, die sich zu einer umfassenden Geschichte des Denkens im deutschsprachigen Raum ausweitete, an der er in den Jahren 1819 bis 1840 immer wieder arbeitete. Jakob hatte in Wien wertvolle Kontakte zu Sprachforschern aus aller Welt geknüpft und begonnen, sich mit der slawischen Sprache zu beschäftigen. Dies setzte in den folgenden Jahren die Erforschung des Altertums der slawischen Sprachforschung in Gang. Außerdem übersetzte er die serbische Grammatik des serbischen Dichters Wuk Stephanowitsch.

Ihr Landesherr, der Kurfürst Wilhelm II., hatte nicht das geringste Verständnis für die Bedeutung seiner Bibliotheksbeamten. Ihm war es im Gegenteil zuwider, daß Leute, die er bezahlte, mehr und anderes taten, als einfach ihre Arbeitsstunden abzuraspeln und ihre Dienstgeschäfte zu erledigen, die von den beiden sicherlich nicht vernachlässigt wurden. Er hatte das Gefühl, sie studierten, forschten und publizierten praktisch auf seine Kosten und wollte lieber unauffällige, pedantische, aber keine genialen oder berühmten Bibliothekare haben. Daher wurden sie bei allen Beförderungen übergangen und in niedriger Stellung gehalten, so daß sie in den ganzen Jahren mit einer mangelhaften Besoldung auskommen mußten. Trotzdem hätten die schaffensreichen Jahre in Kassel nach Ansicht der genügsamen Brüder ewig so weitergehen können.

Nachdem Wilhelm 1825 eine Familie gegründet hatte, wurde die Lage doch knapp, und als der bisherige Bibliotheksdirektor, ihr alter Kollege Völkel, starb, wagten sie - beide 15 bzw. 13 Jahre in ihrem Amt - beim Fürsten dennoch einen Vorstoß auf eine Beförderung und damit bessere Besoldung; doch für diese Stelle des Bibliotheksdirektors wurde ein anderer bestellt, der "nicht das mindeste von Bibliothek versteht. Diese unverantwortliche Anstellung hat uns sehr verstimmt und selbst hier jedermann erstaunt." Die Brüder wurden mit einer jeweiligen Zulage von 100 Talern abgespeist. Schließlich rangen sie sich, dem Drängen ihrer Freunde folgend, schweren Herzens zu dem Entschluß durch, einem von der Göttinger Universität ausgesprochenen Rufe nachzugeben. Als sie ihre Stellung endgültig kündigten, bemerkte der hessische Fürst nur lakonisch: "Die Herren Grimm gehen weg! Großer Verlust! Sie haben nie etwas für mich getan!"32

Im Jahre 1830 siedelten sie nach Göttingen über. Wilhelm hatte 1825 Dortchen aus der Familie Wild geheiratet, mit der die Grimms seit ihrer Kindheit befreundet war. Das harmonische Zusammenleben der Brüder wurde durch diese Heirat in keiner Weise verändert. Wie schon in Kassel, lebte Jakob weiter bei der Familie seines Bruders und wurde von den Kindern liebevoll "Apapa" genannt.

Die Brüder erhielten Anstellungen als Bibliothekare und ordentliche Professoren, obwohl ihnen die Tatsache, zu festgesetzten Zeiten Vorlesungen geben zu müssen, erst äußerst zuwider war. Diese Göttinger Zeit war von großen persönlichen Sorgen geprägt, die vor allem der lebenslangen Herzkrankheit Wilhelms entsprangen, der oft dem Tode nahe war. Trotz aller Hindernisse war die Zeit in Göttingen aber in mancher Hinsicht ertragreich.

Die "Göttinger Sieben"

Von den politischen Auseinandersetzungen in Frankreich war auch das Königreich Hannover betroffen, das in Personalunion mit England verbunden war. 1824 hatte Karl X. den französischen Thron bestiegen. Er verkörperte die Kräfte der absolutistischen Reaktion. Das liberale Bürgertum revoltierte, und Karl X. griff 1830 zum Mittel des Staatsstreiches. Durch seine drastischen Verfügungen vom 26. Juli 1830 - Auflösung der Kammer, Pressezensur und Wahlrechtsänderung - brach am nächsten Tage die sogenannte Julirevolution aus. Karl X. mußte abdanken. Der neue König Wilhelm IV. des Königreichs Hannover, zu dem Göttingen gehörte, mußte sich daher ebenfalls mit dem "politischen Getümmel" auseinandersetzen und 1833 eine Verfassung genehmigen, auf die von jedem Staatsdiener, einschließlich aller Professoren, der Treueeid geschworen wurde.

Als aber König Wilhelm IV. schon 1837 starb, überstürzten sich die Ereignisse. Seine älteste Tochter konnte als Queen Victoria zwar den englischen Thron, aber nicht den hannoverschen besteigen, weshalb die Personalunion mit England gelöst wurde. Der jüngste Sohn Wilhelms IV., Ernst August, Herzog von Cumberland, erhielt nun den hannoverschen Thron. In England erzogen, dachte er völlig monarchisch und sah keinerlei Grund, sich seine Rechte durch eine Verfassung einschränken zu lassen. Er erklärte das Staatsgrundgesetz von 1833 kurzerhand für rechtlich unverbindlich.

Seine erste Amtshandlung war ein dreister Willkürakt: Am 1. November 1837 hob er die bestehende Verfassung auf und vertagte einfach die Zusammenkunft des Parlaments auf unbestimmte Zeit. Zugleich entband er alle Staatsdiener ihres Eides, den sie auf die Verfassung geleistet hatten, und regierte ohne Mitwirkung der Volksvertreter. Das hatte erschütternde Auswirkungen auf die Universität; denn von hier aus wurden mit höchster Spannung alle politischen Geschehnisse beobachtet, wenn es um die Rechte des Volkes ging. Da das Parlament gegen diesen Eidbruch des Königs nicht protestierte, wurde wertvolle Zeit für die Verteidigung der Verfassung vertan.

Deshalb erhoben am 17. November die sieben Professoren Friedrich Christoph Dahlmann, die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm, Georg Gottfried Gervinus, Wilhelm Eduard Albrecht, der evangelische Theologe Heinrich Ewald (C.F.Gauß' Schwiegersohn) und der Physiker Wilhelm Weber einen Protest gegen die eigenwilligen Maßnahmen des neuen Regenten, da sie sich durch ihren geleisteten Eid weiterhin an die Verfassung von 1833 gebunden fühlten. In der Erklärung, die sie dem König offiziell überreichen ließen, hieß es, die Unterzeichneten "können nicht ihr Gewissen belasten, indem sie stillschweigend geschehen lassen, daß das Staatsgrundgesetz, ohne weitere Untersuchung und Verteidigung vonseiten der Berechtigten, allein auf dem Wege der Macht zugrunde geht".

Die Reaktion des Königs war despotisch: Am 11. Dezember wurden alle an der Verfassung der Protestnote beteiligten Professoren ihres Amtes enthoben, und drei von ihnen, Dahlmann, Jakob Grimm und Gervinus hatten innerhalb von drei Tagen das Land zu verlassen. Doch die Verfassungsaufhebung hatte schon weite Teile der Universitäten aufgewühlt. Jakob Grimm beschreibt:

Doch viele der Professoren reagierten nicht so, wie es richtig gewesen wäre. Einige zauderten und wollten warten bis vielleicht das Parlament doch irgendwann wieder tage, einige fürchteten um ihre Stellung und um die Ruhe für die Fortsetzung ihrer Studien, andere sahen sogar die Gefahr, daß der König die Universität, an der sie über alles hingen, auflösen könnte. Wieder andere hielten es für ratsam, unterwürfig zu schweigen, da sie jede Ungnade des Herrschers als das unerträglichste Unglück betrachteten. Jakobs im Januar 1838 verfertigte Schrift "Über meine Entlassung" konnte wegen der Pressezensur nicht in Deutschland gedruckt werden, sondern erschien in Basel. Sie sollte ein Mittel sein, "unsere Gesinnung rein und ungefälscht der folgenden Zeit zu überliefern", und außerdem sei es für die Geschichte der Universität bedeutsam, alle Hergänge treu zu schildern, damit "diese Schmach denen, die in sie verwickelt sind, nicht erlassen bleibt". Am Ende sagt er: Als die drei Vertriebenen (Dahlmann, Gervinus und J.Grimm) das Land verließen, waren sogar Polizei und Militär aufgeboten worden, um jede Menschenansammlung zu verhindern, und es wurde ein Verbot erlassen, an diesem Tage Pferde und Wagen an Studenten zu vermieten. Trotzdem waren 300 Studenten nachts sechs Stunden weit bis Witzenhausen an der kurhessischen Grenze zur alten Werrabrücke gewandert, um dort auf die drei zu warten und sie zu verabschieden. Jakob Grimm, der sehr kinderlieb war, hatte auf der Fahrt dorthin ein Erlebnis, das ihn tief bewegte. Ein Kind, dem er vom Wagen aus freundlich die Hand ausstrecken wollte, versteckte sich hinter der Schürze der Mutter; diese führte es zum Wagen und sagte: "Gib dem Herrn eine Hand, er ist ein Flüchtling."

Etwa 50 bis 60 Studenten ließen es sich an dem Tag nicht nehmen, nun in verschiedenen Wagen ihren Lehrer auf seinem Weg bis nach Kassel zu begleiten. Sie wurden aber nicht in die Stadt gelassen, sondern an den Toren gezwungen, umzukehren.

Die Teilnahme der Bevölkerung und die Hilfsbereitschaft war groß. So wurde in Sachsen ein Hilfsverein gegründet, um durch verschiedene Komitees die ihrer Existenz beraubten Professoren und deren Familien zu unterstützen. Der ausgewiesene Dahlmann war nach Sachsen gegangen und hatte dort eine sehr freundliche Aufnahme erfahren. Wilhelm Grimm, der erst im Jahre 1838 nach Kassel übersiedelte, hatte in Göttingen eine schwere Zeit auszustehen, denn er mußte nun "abgeschmackte Lobpreisungen" oder "hoffärtige Verhöhnung" ertragen. Doch gab es auch ergreifende Beispiele dafür, wie die Verfassungstreue der Göttinger Sieben bis in alle Volksschichten geachtet wurde. Wilhelm Grimm berichtet:

Die Heldensagen und die Bedeutung des Eides

An den Anfang seiner Schrift über seine Entlassung setzte Jakob Grimm ein Zitat aus dem Nibelungenlied "war sint die eide komen?" (d.h. etwa: "Wie ist die Bedeutung des Eides geschwunden?"). Während der letzten Jahre in Kassel hatte Wilhelm Grimm an der Herausgabe der Deutschen Heldensage gearbeitet, die 1829 erschien. In Sprachzeugnissen, die bis auf das 6.Jh. zurückgehen, analysiert er Inhalt, Werdegang und Bedeutung dieser immer wieder veränderten, in Gedichtform niedergeschriebenen, Erzählungen. Die alten Heldenlieder, wie zum Beispiel die gothische und rheinische Sage, die Vilkina Saga oder die Lieder der alten Edda, beschreiben nicht nur die mythischen Vorstellungen von der Erschaffung der Erde, den Handlungen der Götter (gôthen) und von ihrem Untergang, nein, sie sind auch ein Beispiel für die Selbstzerstörung ganzer Geschlechter durch das freie Ausleben der Leidenschaften. Durch Machtgier, Neid, Buhlerei und Haß werden Eide gebrochen, die Treue aufgelöst, Flüche und Weissagungen schüren Angst und Schrecken, wodurch dem "Schicksal" oft freier Lauf gelassen wird.

Doch dabei zieht sich durch alle Sagen auch ein tiefer Glaube an gewisse Grundüberzeugungen und ewig feststehende Gesetze. Wilhelm Grimm macht dies in seinem Vorwort ganz deutlich. In den Götter- und Heldensagen geht es vor allem darum, die Freiheit des menschlichen Geistes zu wahren und den Unterschied zwischen gut und böse klar aufzuzeigen.

Darüber hinaus "folgt die Sage der Entwicklung des menschlichen Geistes oder, vielmehr, sie begleitet ihn von einer Stufe zur andern. In diesem Fortgange kann sie alles, was ein Volk geistig besitzt, Himmlisches wie Irdisches, berühren und in sich aufnehmen. Dieses Verhältnis gestattet nicht, ihren Inhalt anders als auf solche allgemeine Weise zu bestimmen; doch scheint bei selbständigen, in ruhigem und abgeschlossenem Dasein verharrenden Völkern ernste Betrachtung des Übersinnlichen das erste Bedürfnis des erwachten Geistes gewesen zu sein."37

Außerdem werden die ewigen Grundwerte der Menschheit geklärt. So schwören Gunther und seine Brüder im Nibelungenlied (in Lieder der alten Edda) mit Siegfried den Eid, zusammenzuhalten und das Reich gemeinsam zu führen. Da wird Brunhild zur eifersüchtigen Hyäne und drängt zum Mord an Siegfried, den sie nicht erobern konnte. Gunther berät sich mit den anderen in tiefer Traurigkeit, und es fällt der bedeutende Satz: "Schändlich wär eine solche Tat, mit dem Schwerte brechen zugeschworne Eide, ja, zugeschworne Eide, verpfändete Treue!"38

Die von Epoche zu Epoche immer wieder in veränderter Form niedergeschriebenen Epen spiegeln die jeweiligen Sitten und ethischen Grundsätze der Völker wieder. Wer immer sie niedergeschrieben hat, sah das sicher auch als Mahnmal für die kommenden Generationen und malte oft ein erschreckendes Bild der in ihren Leidenschaften gefangenen Menschen. Das Erlöschen des Rechts der Blutrache kann man zum Beispiel in der neueren Siegfriedsage beobachten. In der alten Edda ist sie noch gültig.

Die Entwicklung des menschlichen Geistes und seine Befreiung von den dunklen Mächten der Leidenschaften ist die eigentliche Aussage der epischen Sagen. "Jedes wahrhafte Gedicht hat, weil es das Wirkliche in der Idee zu fassen und zu reinigen strebt, einen Mittelpunkt oder einen geistigen Grundgedanken... Dieser Gedanke enthält nicht etwa bloß eine sittliche Betrachtung; er trägt eine höhere Bedeutung in sich; denn der Ring erscheint als Symbol dunkler, unterirdischer Mächte, die den Menschen dem Untergang zuführen... Grundgedanke des Ganzen scheint mir der Satz, daß das Gold, obgleich begehrungswürdig, doch in die Gewalt der dämonischen Mächte bringe, und zwar trifft das Unheil nicht bloß einen Helden, sondern einen herrlichen, leuchtenden Gott."40

Diese dunkeln Mächte (die Leidenschaften), die die Emotionen der Menschen kontrollieren, das Ausleben der Emotionen, der niedersten Triebe, Haß, Neid, Blutrünstigkeit aus Machtgier, so daß das Blut auf dem Schlachtfeld von einem Bache zum Strome anschwillt und die Verwundeten aus Durst daraus trinken, wie es im Atlilied heißt, gilt es zu überwinden. Die Brüder hätten die monumentalen Gebilde, die Richard Wagner Jahrzehnte später aus Teilen der Heldensage zusammenschrieb, um ein dekadentes Publikum mit der fanatischen Lust an der Selbstzerstörung zu kitzeln, sicher nicht gutgeheißen.

Teil 3 - Arbeit am Deutschen Wörterbuch und in der Frankfurter Nationalversammlung

Am Anfang war das Wort

Das Urteil des hannoverschen Königs traf das Haus der Brüder wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die sieben Professoren wurden sofort ihres Dienstes enthoben. Dahlmann, Gervinus und Jakob Grimm mußten innerhalb dreier Tage das Land verlassen; letzterer wandte sich der alten Heimat Kassel zu, wo er beim jüngeren Bruder Ludwig Emil erst einmal unterkommen konnte. Die Trennung von Wilhelm und der Verzicht auf die gewohnte Gemeinsamkeit bei der Arbeit machte den Aufenthalt für beide zu einem schweren Asyl. Deshalb zog Wilhelm ein Jahr später (1838) ebenfalls mit seiner Familie nach Kassel.

Ihre Verhältnisse blieben weiterhin ungeklärt, sie lebten von Bücherhonoraren und Spenden der Hilfskomitees für die "Göttinger Sieben". Die allgemeine Anteilnahme und Bewunderung, welche ihnen aus allen Teilen Deutschlands entgegenkam, zeigte die Hoffnung darauf, dieses Beispiel könne vielleicht ein Umdenken anderer Landesfürsten bewirken. Die Aktion aus Charakterfestigkeit und Überzeugungstreue wurde zur historischen Tat. Dahlmann, mit den Brüdern eng befreundet und ebenfalls Sprachforscher, war nach Sachsen gegangen und dort höchst freudig aufgenommen worden. Der König von Sachsen erklärte sogar:

Solche und ähnliche Äußerungen hatten aber oft ihren Grund in der feindlichen Beziehung zwischen Preußen und Sachsen und konnten von den Brüdern nicht ernstgenommen werden. Daher hofften sie auf eine neue Anstellung in ihrer Heimat, entweder Hessen oder Hannover. In dieser vorübergehend stellungs- und heimatlosen Zeit, in der die Brüder zeitweise getrennt und aus ihrer gemeinsamen ungestörten Arbeiten gerissen waren, reifte in ihnen der große Plan, ein "Deutsches Wörterbuch" herauszugeben, denn "Wörterbücher hat man auch bei andern Völkern stets als wahre Nationalunternehmungen angesehen". Die erste öffentliche Ankündigung des Wörterbuchs durch die Brüder Grimm erschien im August 1838 in der Leipziger Allgemeinen Zeitung: Sie wollten keinen "Gesetzbuch"-ähnlichen Vorschriftenkatalog für den richtigen Gebrauch der Wörter zusammenstellen, sondern eine "Naturgeschichte der Wörter". Die unermeßliche Bedeutung des Wortes, zusammengetragen aus einem 300 Jahre umfassenden Sprachschatz von Luther bis Goethe, zeigt gleichzeitig die freie Entfaltung des menschlichen Denkens. Deshalb sollte mit dem Wörterbuch nicht nur die Sprachforschung aufgefrischt werden, sondern ein Weg zur Verbesserung der Sprachpraxis gezeigt werden, wie das Wort sich wieder fest an den Gedanken schließen muß, um den Sinn des Gesagten vollständig auszudrücken - "... damit man nicht den Mund voll nimmt und sagt wenig, manchmal gar nichts. Die Knochen erweichen, das Antlitz wird bleich und bleifarben."42 Das Wörterbuch sollte ein wissenschaftliches Monument werden, das beide bis zu ihrem Lebensende beschäftigte. Wilhelm beendete dabei den Buchstaben "D", Jakobs letztes Werk war die Arbeit an dem Worte "Frucht". Nach ihrem Tode blieb also noch ein weiter Weg bis zur Vervollständigung des ganzen Wörterbuches, und bis in unsere Tage (abgeschlossen 1961) waren Gelehrte damit beschäftigt.

Berliner Revolution und Deutsche Nationalversammlung

Die Berliner Freunde der Grimms hatten schon seit deren Entlassung daran gearbeitet, die beiden an die Berliner Akademie ziehen zu können. Doch der Ruf wurde erst nach dem Tode des absolutistisch gesinnten Wilhelm III. erteilt, der noch in seinem Testamentsentwurf von 1838 peinlichst darauf bedacht war, seine königliche Macht uneingeschränkt seinem Nachfolger zu hinterlassen. Als er 1840 starb, folgte ihm auf den Thron Friedrich Wilhelm IV., der im Königtum eine gewisse Verantwortung dafür sah, die geistigen, wissenschaftlichen und künstlerischen Bestrebungen des Staates zu fördern. Ende des Jahres 1840 wurden die Brüder Grimm - unter Mitwirkung Alexander von Humboldts und mit der besonderen Zustimmung des neuen Königs - höchst ehrenvoll an die von Gottfried Wilhelm Leibniz gegründete Akademie der Wissenschaften in Berlin gerufen. Der Wissenschaftsminister Eichhorn, den Jakob seit seiner Zeit in Paris kannte, schrieb über die Berufung an Jakob Grimm: Wilhelm IV. hatte noch weitere Maßnahmen ergriffen, welche von den freiheitsliebenden Kreisen mit großer Hoffnung aufgenommen wurden. So erließ er eine Amnestie, welche alle Burschenschaftler aus den Gefängnissen holte. Der Sprachwissenschaftler Dahlmann wurde als Professor nach Bonn berufen. Jakob Grimm schreibt voller Hofnung an Gervinus: Dies sollte sich schnell zerschlagen. Der König erließ zwar am 3. Februar 1847 ein Patent zur Einberufung eines Vereinigten Landtages, doch in der gärenden, alles beherrschenden Verfassungsfrage gelangte er genausowenig wie die anderen deutschen Fürsten zu einer Lösung. In der Rede, die Wilhelm IV. bei der Eröffnung des Landtages am 11. April 1847 hielt, ernüchterte er alle Hoffnungen auf eine konstitutionelle Monarchie. Er betonte ausdrücklich, er werde "niemals zulassen, daß ein geschriebenes Blatt Papier [die Verfassung] sich zwischen den König und sein Volk dränge."

Jakob Grimm schrieb an den befreundeten Dahlmann:

Bald überschlugen sich die Ereignisse. Die Geduld des Volkes war am Ende, die schlechte Ernte des Jahres 1847, der darauffolgende strenge Winter hatten Hungersnöte zur Folge. Durch die Nachrichten von der Februarrevolution in Frankreich und Italien 1848 verstärkten sich die Aktivitäten in Deutschland. In Berlin stürmten die hungernden Menschen die Marktstände, es kam zu Barrikadenkämpfen, und es wurde eine Bürgerwehr gebildet.

Auch in anderen deutschen Städten fanden Protestkundgebungen statt, vor allen spielte Hanau, die Geburtsstadt der Brüder, eine Vorreiterrolle bei den folgenden Ereignissen. Schon am 18. Februar fand dort eine Volksversammlung statt, die an den Fürsten in Kassel eine Resolution mit Forderungen sandte, unter anderem der nach der

ähnlich der Forderungen, die auch in mehreren anderen deutschen Staaten, in Berlin und Wien gestellt wurden und als die "Märzforderungen" in die Geschichte eingegangen sind. Hessen spielte bei deren Durchsetzung eine führende Rolle.

Als die Delegationen in Kassel nur eine Aufhebung der Pressezensur und Verbot der Deutschkatholiken beim Fürsten erlangten, machte sich die gesamte bewaffnete Volksmacht auf den Weg und stellte dem Kurfürsten ein Ultimatum. Als dieser seine kurhessischen Truppen mobilisierte, weigerten sie sich, auf ihre eigenen Landsleute zu schießen und solidarisierten sich mit der Hanauer Bürgermacht, so daß der Kurfürst am 11. März das Ultimatum akzeptieren mußte.

Dies war der erste Sieg über einen Fürsten noch vor den Ereignissen in Berlin und Wien. In Wien wurde Metternich gestürzt, und in Berlin mußte Wilhelm IV. wegen der um sich greifenden Unruhen mit dem gesamten Hofstaat nach Potsdam fliehen. Die Macht der einzelnen Landesherren war so erschüttert, daß sich die Forderung nach der schnellen Einberufung eines gesamtdeutschen Parlaments endgültig durchsetzte. So konnte bereits am 18. März 1848 in der Frankfurter Paulskirche die Nationalversammlung eröffnet werden. Jakob Grimm vertrat als Abgeordneter den Wahlkreis Essen/Mühlheim.

Die Nationalversammlung in Frankfurt am Main

Die von Mai 1848 bis April 1849 in der Paulskirche tagende Versammlung war eine Mischung aus königstreuen Konservativen, die eine Verfassung innerhalb einer Monarchie möglich machen wollten, sowie denen, die sofort eine Republik ausrufen wollten ("Republikaner"). Jakob gehörte nicht zu den häufigen Rednern, doch trug er einige wohlbedachte Gedanken über die Bedeutung der Freiheit und Würde des Menschen vor. In seiner Rede über die Abschaffung des Adels machte sich sein tiefes Verständnis von der Bedeutung des technischen Fortschritts - er war einer der ersten Passagiere auf der Eisenbahnstrecke Nürnberg-Fürth - für die wahre Freiheit des Menschen deutlich: Außerdem hat der Abgeordnete Jakob Grimm eine wesentliche Änderung zum ersten Artikel des Grundgesetzes beigetragen: Die Verhandlungen waren zeitweise sehr turbulent, und einer der republikanischen Abgeordneten, Robert Hecker, der in Deutschland gerne eine zweite "amerikanische Revolution" gesehen hätte, überwarf sich mit der Versammlung und zog mit einigen Mitstreitern nach Stuttgart, wo er die Republik ausrufen ließ. Der Versuch mißlang und wurde niedergeschlagen, Hecker und andere gefangengenommen. Außerdem kam es in Berlin immer wieder zu militärischen Zusammenstößen zwischen der Bürgerwehr und den Truppen des Königs, die teilweise durch Provokateure angezettelt wurden. Jakob Grimm berichtet von den Turbulenzen in Frankfurt: Die reaktionären Kräfte benutzten die Ausuferungen zum Zwecke der "Wiederherstellung von Recht und Ordnung" auf ihrer Seite, und bereits am 10. November 1848 begann die militärische Besetzung Berlins. General Wrangel ritt an der Spitze einer Armee von 13 000 Soldaten mit sechzig Geschützen durch das Brandenburger Tor. Am 11. November verfügte Friedrich Wilhelm IV. die Auflösung der Bürgerwehr, und am 15. November schickte General Wrangel Militärpatrouillen durch die Straßen Berlins, welche die Bürger zum Abgeben ihrer Waffen aufforderten. Dies alles ging mit heftigen Kämpfen zwischen Bürgerwehr und Militär einher, die bis tief in die Nacht dauerten.

Trotz der in Frankfurt weiter tagenden Nationalversammlung begann damit bereits die "Gegenrevolution", worauf die der Nationalversammlung von vornherein feindlich gegenüber stehenden Kreise nur gewartet hatten. Als am 28. März 1849 in der Frankfurter Paulskirche die Reichsverfassung verkündet wurde, waren die reaktionären Kräfte bereits so weit gefestigt, daß es sich die größeren Länder - allen voran in Wien und in Berlin - erlauben konnten, die Verfassung offiziell abzulehnen. Als wenige Tage nach der Entscheidung der Versammlung für die kleindeutsche Lösung der konstitutionellen Monarchie durch eine Delegation dem König von Preußen die erbliche Kaiserwürde übertragen werden sollte, lehnte dieser die Krone ab. Er soll geäußert haben, sie sei ein "Reif aus Dreck und Letten gebacken, dem der Ludergeruch der Revolution anhafte" und "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!".

In dieser Situation versammelten sich hinter den Republikanern alle, die gegen die Rückkehr zum absolutistischen Staatengebilde waren, und es kam zu verzweifelten Kämpfen. In Baden verweigerte das gesamte Militär dem Großherzog den Dienst, und der Kampf um die Reichsverfassung konzentrierte sich ab jetzt, nachdem er in Berlin und Dresden gescheitert war, auf Baden und die Pfalz, mit denen sich auch die Hanauer Turnerwehr verband. In der Schlacht bei Waghäusel siegten die preußischen und kurhessischen Truppen. Nach Verlust der Murglinie gingen viele Flüchtlinge über die Schweizer Grenze und wurden dort im Kornhaus Bern untergebracht. Durch den Fall der Festung Rastatt am 23. Juli 1849 ging die deutsche Revolution endgültig verloren, viele Freiheitskämpfer gingen in den Kasematten von Rastatt elendig zugrunde, viele andere wurden von den Preußen hingerichtet. 80 000 Badenser emigrierten nach Amerika, um der Verfolgung zu entgehen.

Menschenrechte, Wahrheitssuche und Poesie

Die bedeutendste Leistung des Nationalparlaments bleibt die Verabschiedung der Grundrechte des Volkes und der Reichsverfassung, die in wesentlichen Punkten mit dem heutigen Grundgesetz noch übereinstimmen. Bis zum deutschen Grundgesetz von 1949, welches auf diesem Fundament steht, war es aber noch ein langer Weg. Schon zwei Jahre später, 1850, war nichts mehr von der großen Idee der Menschenrechte übrig: In Preußen wurde eine Konstitution mit zwei Kammern eingerichtet, auf die nur der König, die Abgeordneten und die Zivilbeamten den Eid leisteten. Das neue Dreiklassenwahlrecht sicherte dem Adel und den Ständen Doppelstimmen zu, die in Frankfurt verabschiedeten Grundrechte wurden ausgehöhlt und praktisch außer Kraft gesetzt. Im gleichen Jahr wurden in Berlin die "Volkspartei" und die Bildung von "Handwerkervereinen" verboten. Dies war die politische Stimmung der letzten Schaffensjahre der Brüder. Was entstehen hätte können, ein freier Staat mit einer Verfassung, "in der man stolz und ruhig leben kann", das hatte sich nicht entwickelt.

Der Rechtsbegriff der Brüder Grimm entstand in dem Bewußtsein, daß es, einmal festgesetzt und beschworen, nicht gebeugt oder gebrochen werden könne. Ihre Entscheidung, gegen den Eidbruch des hannoverschen Königs öffentlich zu protestieren, geschah aus diesem natürlichen Bewußtsein. In seinem späten Werk über "Poesie und Recht" beschreibt Jakob, daß in jedem Rechtsspruch eine hohe künstlerische Formkraft waltet, denn er mußte ein dauernder Wahrspruch sein, der das göttliche Naturrecht und das menschliche Sittengesetz ausdrückt, ja der das Gute, die Wahrheit und Schönheit vereint. Das Recht entsteht durch die Suche nach der Wahrheit im Miteinander der Menschen, deshalb haben Poesie und Recht gemeinsamen Ursprung, ja er beweist, daß der natürliche Antrieb zur Dichtung und Sprachverdichtung mit der Schaffung einer gültigen Recht-Sprechung gleichzusetzen ist.

Im hohen Alter, nach dem Tode Wilhelms, ist Jakob in seiner Rede "Über das Alter" noch einmal auf die Bedeutung der Wahrheitssuche und der Sehnsucht nach einer dem Menschen würdigen Verfassung, welche ihm diese Freiheit erst ermögliche, zurückgekommen. Sie erinnert an Leibniz' Formulierung des Rechts des Menschen auf "Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit" in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776:

Doch das Jahr 1859 gewann eine große Bedeutung für die nicht ausgelöschte Hoffnung auf einen einigen Verfassungsstaat Deutschland. Denn am 10. November 1859 war Friedrich Schillers 100. Geburtstag, der Tag, an dem der gefeiert werden sollte, der durch die Macht der Poesie dem Menschen seine Würde bewußt macht. Jakob Grimm hielt die Festrede in der Berliner Akademie der Wissenschaften auf "den hinreißenden Lieblingsdichter des Volks." Er verstand es, die Menschen zu sich zu erheben, bei ihm glauben sie sich emporgerückt, "weil seine Lieder, die Würde unserer Natur erhebend, allen Menschen die Brust erwärmt", weil seine Schauspiele "die Rechte und Freiheiten des Volks sichtbar darstellen, ... Im Tell läßt er Attinghausen ausrufen: Für deutsche Freiheit war Wallenstein und Tell entworfen, ... und der allgemeine menschliche Jubel, den die Chöre des Liedes an die Freude anfachen, wird nie erlöschen ..."52

Und tatsächlich wurden die Schillerfeiern des Jahres 1859 - die ersten gesamtdeutschen politischen Manifestationen seit 1848 - zum Ausgangspunkt einer mächtigen Bewegung, die schließlich zur Einigung Deutschlands führte. In ganz Deutschland, in allen Städten Amerikas, ja, überall in der Welt wurde dieses Fest begangen.

Praktisch über der Arbeit verstarb noch im selben Jahr Wilhelm Grimm, vier Jahre später Jakob. Die Brüder haben durch ihre Forschungstätigkeit, in ihrem Rückblick auf die poetischen Zeugnisse der Menschen, gezeigt, wie die menschliche Sprache und Gedankenwelt in einem unendlichen Entwicklungsprozeß begriffen ist. Damit haben sie, wie auch Schiller, den Menschen aus dem Augenblick heraus in die ewige Welt der schöpferischen Ideen gestellt, von denen man wie in ihren Märchen sagen kann:

Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.


Fußnoten:

22) Wilhelm Grimm, Brief an die Tante Zimmer, 10.10.1809

23) Jakob Grimm, "Selbstbiographie"

24) Jakob Grimm, "Über meine Entlassung", 1838, in Ausgewählte Schriften, dtv 1984

25) Wien, 2. Okt.1814, ebd. S.363

26) ebd. S.374

27) ebd. S.396-399

28) ebd. S.401

29) ebd. S.399

30) Jakob Grimm, "Selbstbiographie"

31) Jakob Grimm, "Über den Ursprung der Sprache", in Ausgewählte Schriften

32) Hanau, Tafel im Gebrüder-Grimm-Museum

33) Jakob Grimm, "Über meine Entlassung", 1838, in Ausgewählte Schriften, dtv 1984

34) ebd.

35) ebd.

36) Brief Wilhelm Grimms an Lachmann, 27.4.1838

37) Wilhelm Grimm, "Die Deutsche Heldensage", Gerstner-Verlag Darmstadt 1957, S.383

38) Brüder Grimm, deutsche Übersetzung der "Lieder der alten Edda"

39) Wilhelm Grimm, "Die Deutsche Heldensage", Gerstner-Verlag Darmstadt 1957, S.410

40) Wilhelm Grimm, "Kleinere Schriften", Band IV, S.550

41) Hermann Gerstner, "Die Brüder Grimm", S.211

42) Wilhelm Grimm, Bericht über das Dt. Wörterbuch, in "Kleine Schriften", Bd.I, S.516

43) ebd.

44) Hermann Gerstner, "Die Brüder Grimm", S.229/230

45) Jakob und Wilhelm Grimm, Briefwechsel mit Gervinus, 12.11.1840

46) Jakob und Wilhelm Grimm, Briefwechsel mit Dahlmann, 14.4.1847

47) Aus den Protokollen der Frankfurter Nationalversammlung; in Jakob Grimm, "Kleine Schriften"

48) ebd.

49) "Briefwechsel zwischen Jakob und Wilhelm Grimm". Hrsg. Heinz Rölleke, S. Hirzel Verlag, Stuttgart, 2001, Brief vom 7.8.1848

50) ebd., Jakob Grimm, 1858

51) Jakob Grimm, Rede über das Alter, "Ausgewählte Schriften", dtv 1984

52) Jakob Grimm, Rede auf Schiller, Festrede gehalten in der Berliner Akademie am 10.11.1859


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