Mai 2003:
Pfad:> Partei BüSo> BüSo Hessen> Kultur> Archiv


Das Werk Justus Liebigs

Vor 200 Jahren, am 12. Mai 1803, wurde in Darmstadt der große Forscher Justus Liebig geboren. Aus diesem Anlaß veröffentlichen wir einen Beitrag, der bereits vor 20 Jahren in der Zeitschrift FUSION Ausgabe 2/1983 erschien, in einer gekürzten und leicht bearbeiteten Fassung

Grundlagen des Aufbaus von Biomasse Wo kommen die Pflanzen (Biomasse) her? - Aus anorganischer Materie mit Hilfe von Sonnenlicht, sagt Justus Liebig.
In einer ersten Stufe, der assimilatorischen Nitratreduktion wird Nitrat (NO3-) mittels Photosynthese (Sonnenlicht) von Pflanzen zuerst in Ammonium (NH4+) und dann über die Aminosäuren-Synthese, usw., auch mit Hilfe des Lichts in Biomasse umgewandelt. -
Gar nicht so schwierig, wenn man΄s weiß...


Während die Malthusianer des 19. Jahrhunderts von Hunger, Weltende und Geburtenbeschränkung redeten, schuf Justus Liebig die Waffen, um den Hunger ein für allemal zu beenden: Mit der Agrikulturchemie konnte man den Bodenertrag nicht nur erhalten, sondern um ein Vielfaches steigern und damit auf gegebenem Raum eine wachsende Zahl von Menschen ernähren.

Die Arbeit Liebigs ist ein schönes Beispiel für die spezielle Fähigkeit des Menschen, durch wissenschaftliche Tätigkeit zur Beherrschung grundsätzlicher Naturprinzipien zu gelangen. Er fand heraus, daß die Pflanzen bei ihrer Ernährung und Fortpflanzung in ständiger Verbindung zur unbelebten Materie sowohl des Bodens als auch der Atmosphäre stehen und daß der Mensch diesen Prozeß durch entsprechende Düngung steuern kann.

Und wieso haben wir heute, 200 Jahre später, den Hunger immer noch nicht besiegt? Well zu einer fruchtbaren wissenschaftlichen Tätigkeit und der Anwendung ihrer Errungenschaften ein Menschenbild gehört, das die Fähigkeiten des Menschen ehrt und ihm den gebührenden Platz im Universum einräumt.
Justus von Liebig war ein Kind der Weimarer Klassik. Alexander von Humboldt, der in seinem Kosmos den Fortschritt des Menschengeschlechts beschreibt, war sein großer Förderer. Heute dagegen leben wir in einer Zeit, die den Menschen verachtet, einer Zeit, in der sogenannte "Experten" der Auffassung sind, daß sie die Schöpfung vor dem Menschen schützen müssen, daß es ohnehin zu viele Menschen gibt und der Kampf gegen den Hunger vom Grundsatz her gar nicht erwünscht ist.

Sehen wir uns an, mit welchem Eifer Liebig diese Malthusianer von damals eines Besseren belehrte und wie er mit spitzer Zunge gegen den Aberglauben ankämpfte, der auch heute wieder seine Blüten treibt.

Ein Wissenschaftler in der Tradition Platons

Justus Freiherr von Liebig Am 12. Mai 1803 in Darmstadt geboren, kam er durch das Drogistengeschäft seines Vaters sehr früh mit Chemikalien in Berührung und experimentierte schon als Schüler nach verschiedensten Anleitungen, die er in Büchern der Darmstädter Hofbibliothek fand. Die Chemie galt zu dieser Zeit in Deutschland nicht als Wissenschaft; sie war bestenfalls an die Fabrikationskünste der Apotheker geknüpft. Der Beruf des Chemikers war völlig unvorstellbar. So endete Liebigs zunächst eingeschlagene Apothekerlaufbahn mit dem berühmten "Knall von Heppenheim", als nach einem neuen Versuch ein ganzes Fenster in die Luft flog.

Mit Hilfe Ludwigs I., des Großherzogs von Hessen, ging Liebig zuerst an die Universität Bonn und dann nach Erlangen zu Professor Kastner. Die Zeit in Erlangen, wo der naturphilosophische Geist Schellings wehte, bezeichnete Liebig später als eine an wahrem Wissen und gediegenen Studien arme Periode, die ihn um zwei kostbare Jahre seines Lebens gebracht habe.

Mit den französischen Chemikern Thenard, GayLussac und Dulong über Veröffentlichungen bereits bekannt geworden, zog es ihn nach Paris. Wiederum mit Hilfe Ludwigs I. von Hessen bekam Liebig ein Stipendium und einen Platz in Thenards Laboratorium an der Ecole Polytechnique. In Paris, wo Gay-Lussac am 28. Juli 1823 eine Arbeit von Liebig über Silber- und Quecksilberverbindungen an der Akademie der Wissenschaften vortrug, wurde Alexander von Humboldt auf den jungen Chemiker aufmerksam.

Alexander von Humboldt ahnte bereits, daß die wissenschaftliche Vervollkommnung der Pflanzenkultur ein unendlich großer Gewinn für die Menschheit wäre, und hatte großen Einfluß auf Liebigs chemische Arbeiten. Humboldt schreibt 1798 in seinem Vorwort zu Ingenhousz' Ernährung der Pflanzen und Fruchtbarkeit des Bodens, auf welches sich Liebig später ausdrücklich beruft:
"Je tiefer wir in das Dunkel der organischen Kräfte eindringen, je mehr wir von dem großen Lebensprozesse erraten, durch den alle vitalen Erscheinungen im Tier- und Pflanzenkörper bewirkt werden, desto eher dürfen wir hoffen, die Mittel aufzufinden, durch welche die schnellere Entwicklung der Organe, und die Veredlung ihrer Säfte befördert wird, und wir dürfen uns keiner Einsicht in den Zusammenhang vitaler Erscheinungen rühmen, wenn wir nicht unablässig das Studium der toten Natur mit dem der belebten verbinden."

Etwa ein Jahr lang arbeitete Liebig mit dem Physiker und Chemiker Gay-Lussac, einem Schüler Bertholets, bevor er nach Deutschland zurückkehrte. Das Studium der toten Natur mit dem der belebten zu verbinden, die Frage nach der Entwicklung organischen Lebens mit Hilfe anorganischer Materie — dies bestimmte seine weitere Arbeit. Was Justus Liebig viele Jahre später in der Einleitung seines bekanntesten und meistgelesenen Werkes, den Chemischen Briefen schreibt, spiegelt den Einfluß der philosophischen Tradition der Ecole Polytechnique wider. Es macht gleichzeitig deutlich, was die Gründlage seiner fast 50-jährigen Zusammenarbeit mit dem Göttinger Gelehrten Friedrich Wöhler war. Er schreibt:
"Nirgends außer sich beobachtet der Mensch einen zum Bewußtsein gelangten Willen, alles sieht er in den Fesseln unwandelbarer, unveränderlicher, fester Naturgesetze; nur in sich selbst erkennt er ein Etwas, was alle diese Wirkungen, einen Willen, der alle Naturgesetze beherrschen kann, einen Geist, der in seinen Äußerungen unabhängig von diesen Naturgewalten ist, der in seiner ganzen Vollkommenheit nur sich selbst Gesetze gibt. Die Kenntnis der Natur ist der Weg, sie liefert uns die Mittel zur geistigen Vervollkommnung. Die Geschichte der Philosophie lehrt uns, daß die weisesten Menschen, die größten Denker des Altertums und aller Zeiten, die Einsicht in das Wesen der Naturerscheinungen, die Bekanntschaft mit den Naturgesetzen als ein ganz unentbehrliches Hilfsmittel der Geisteskultur angesehen haben. Die Physik war ein Teil der Philosophie. Durch die Wissenschaften macht der Mensch die Naturgewalten zu seinen Dienern, in dem Empirismus ist es der Mensch, der ihnen dient; der Empiriker wendet, wie bewußtlos, einem untergeordneten Wesen sich gleichstellend, nur einen kleinen Teil seiner Kraft dem Nutzen der menschlichen Gesellschaft zu. Die Wirkungen regieren seinen Willen, während er durch Einsicht in ihren innern Zusammenhang die Wirkungen beherrschen könnte. Die Naturforschung lehrt uns die Geschichte der Allmacht, der Vollkommenheit, der unergründlichen Weisheit eines unendlich höheren Wesens in seinen Werken und Taten erkennen; unbekannt mit dieser Geschichte, kann die Vervollkommnung des menschlichen Geistes nicht gedacht werden, ohne sie gelangt seine unsterbliche Seele nicht zum Bewußtsein ihrer Würde und des Ranges, den sie im Weltall einnimmt."

Heute ist dieses Menschenbild aus unseren Schulen und Universitäten gründlich ausgemerzt. Kein Wunder, daß dort keine Liebigs mehr erzogen werden, sondern daß das Standardprodukt des heutigen Erziehungsapparats der typische positivistisch-pragmatische Ignorant mit Diplom ist.

Liebig schafft eine neue Wissenschaft

Der bahnbrechende Einfluß Liebigs auf die Naturwissenschaften, den man nur vor dem Hintergrund seiner wissenschaftlichen Methode verstehen kann, war so weitreichend, daß alle von der Chemie berührten naturwissenschaftlichen Bereiche eine grundsätzliche Änderung in der Herangehensweise erfuhren. War die Chemie noch zu Beginn des Jahrhunderts anderen Disziplinen völlig untergeordnet, so wurde sie seit den Arbeiten Justus Liebigs und Friedrich Wöhlers grundlegend für den gesamten landwirtschaftlichen Bereich, für Medizin und Physiologie, für die Arzneimittelkunde und die rasche Entwicklung der chemischen Industrie.
Die mystifizierende naturphilosophische Denkrichtung wurde innerhalb weniger Jahrzehnte eingedämmt und ein zunehmend wissenschaftlicher Geist zog selbst in alltägliche Bereiche der Menschen ein.

Die Vorstellung, daß sowohl der pflanzlichen als auch der tierischen Ernährung chemische Prozesse zugrunde liegen, in welche man Einsicht gewinnen kann, wurde nach und nach zur Gewißheit.

Die intensivste Forschungstätigkeit Liebigs beginnt nach seinem Aufenthalt in Paris, als er 1824 durch ein Dekret Ludwigs I. von Hessen und durch Empfehlung Alexander von Humboldts Professor in Gießen wird und dort mit dem Aufbau der später weltberühmten Gießener Chemieschule beginnt.
Wie Liebig selber beschreibt, dienten alle Arbeiten dieser Schule von Anfang an der Erforschung des Zusammenhangs von anorganischer und organischer Materie. Die schon in diesen Jahren beginnende Zusammenarbeit mit dem damals noch in Berlin tätigen Friedrich Wöhler führt 1832 zu der gemeinsam veröffentlichten Arbeit über Das Radikal der Benzoesäure, die erstmals Aufschluß über den Aufbau organischer Chemie gibt.

Liebig schreibt 1833 an Berzelius: "Der Unterschied der anorganischen Verbindungen von den organischen verschwindet somit mehr und mehr, ich habe immer die Meinung gehabt, daß in der organischen Natur die Prinzipien der anorganischen festgestellt durch unzählige Erfahrungen, sich nur wiederholen dürfen, aber in Modifikationen, die ebenso unendlich sind, als wie die Natur selbst."

Wann immer Liebig diesem Ziel näher kam, erfüllte es ihn mit großer Begeisterung für seine Arbeit. Seine Forschungen an der Gießener Schule beschreibt er z.B. 1844 in den Bemerkungen über das Verhältnis der Tierchemie zu Tier-Physiologie wie folgt:
Ich für meinen Teil gestehe, so sonderbar es auch klingen mag, daß jeder Teil meines Nervensystems wie durch einen elektrischen Strom in eine vibrierende Bewegung geriet, als ich mit Wöhler fand, daß die Harnsäure und alle daraus entstehenden Produkte durch die einfache Zuruhr von Sauerstoff in Kohlensäure und Harnstoff zerfielen als ein ganz bestimmter, in seiner unendlichen Einfachheit nie erahnter Zusammenhang zwischen Harnstoff und Harnsäure sich herausstellte; als die Rechnung erwies, daß Allanloin, der stickstoffhaltige Bestandteil des Harns des Fötus der Kuh, die Elemente von Harnsäure und Harnstoff enthält, als es uns gelang, aus Harnsäure das Allantoin mit allen seinen Eigenschaften darzustellen. Bei unseren Arbeiten wurden über solche Dinge wenig Worte gewechselt, aber wie oft habe ich meines Freundes Augen leuchten sehen! Dasselbe Gefühl ergriff mich, als ich bei der Verfolgung der letzten Produkte des Cyans, des einfachsten aller organischen Radikale sah, wie statt der letzten und allerletzten Spaltung in immer einfachere Verbindungen, der ich entgegensah, die Atome sich wieder zu weit höheren Gruppen, als wie das Cyan selbst ist, ordneten, als bei der Untersuchung der schwefel- und stickstoffhaltigen Bestandteile in den Pflanzen mit jeder neuen Analyse die Ahnung, daß die Zusammensetzung von allen mit der des Blutes identisch sei, zur Wahrheit wurde."

Eine Revolution für den Ackerbau

Bevor Liebig den Landbau auf eine wissenschaftliche Stufe stellen konnte, mußte er gegen tief eingefressene Vorurteile ankämpfen. Obwohl es bereits eine Reihe von Landwirtschaftsschulen in Deutschland und anderen Staaten Europas gab und eine Vielzahl von Regeln zur besseren Bewirtschaftung der Äcker seit Jahrhunderten überliefert wurde, waren die Kenntnisse nicht auf Wissenschaft gegründet, sondern entwickelten sich aus einer Anzahl von empirischen, Erfahrungen. So glaubte man lange, daß Humus, wegen seines Gehaltes an Kohlenstoff, einer der Grundnahrungsstoffe der Pflanzen sei. Man glaubte, da der Pflanzenkörper zu einem großen Teil aus Kohlenstoff besteht, könne die Pflanze diesen nur aus organischer Materie, also Humus, aufnehmen. Die durchaus richtig beobachtete Tatsache, daß Humus den Pflanzenwuchs begünstigt, ist jedoch vielmehr auf eine physikalische Verbesserung des Bodens zurückzuführen, da ein mit Humus angereicherter Boden den Wurzeln bessere Bedingungen zur Ausbeutung der Nährstoffe bietet.

Einige der bis Mitte des 19. Jahrhunderts wichtigsten Gesetze des Ackerbaus — das der einjährigen Brache und die Dreifelderwirtschaft — hängen indirekt damit zusammen. Die verschiedensten Theorien wurden ersonnen, wieso und auf welche Weise sich ein Boden, der ein Jahr lang nicht bewirtschaftet wird, erholt und im darauffolgenden Jahr wieder mit einer besseren Ernte zu rechnen ist. Der beobachtete Erfolg der Brache beruht jedoch darauf, daß die im Boden gebliebenen Wurzeln während eines Jahres verrotten und auf diese Weise der Boden gelockert wird, die physikalischen Bedingungen sich also verbessern. Den gleichen Effekt erzielt man durch das Unterpflügen z.B. von Klee.

Alle diese Maßnahmen hatten jedoch zur Folge, daß die im Boden vorhandenen Nährstoffe schneller

ausgebeutet wurden und somit bessere Ernten nur zu einer noch schnelleren Erschöpfung der Böden führten. Die Getreideerträge waren deshalb um 1850 in Europa und in den Vereinigten Staaten stark rückläufig. Selbst die relativ vorteilhafte Stallmistdüngung — die sich ohnehin nur reichere Bauern mit Viehbeständen leisten konnten — zeigte nach einigen Jahren ein allmähliches Sinken der Samenerträge.

In dem 1840 veröffentlichten Buch Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur und Physiologie beschreibt Liebig sehr ausführlich, daß Pflanzen ihre Nahrung nicht aus organischer, sondern anorganischer Materie beziehen, daß die Kohlensäure der Luft die Quelle des Kohlenstoffs ist und daß alle Mineralien, die mit der Ernte dem Feld entnommen werden, diesem in Form des mineralischen Düngers wieder zugeführt werden müssen. Die bahnbrechende Entdeckung, daß organisches Leben sich mit Hilfe des Sonnenlichts und anorganischer Materie entwickelt, bildet seit diesem Zeitpunkt die unabdingbare Grundlage wissenschaftlich betriebenen Ackerbaus.

Die Forderung nach mineralischer Düngung löste sehr heftige Debatten unter Landwirten in- und außerhalb Deutschlands aus. Die Pragmatiker bestanden auf den seit Jahrhunderten überlieferten Faustregeln; auf die zweifelhaften Lehren der Chemie solle man lieber pfeifen, die Praxis allein verdiene Vertrauen.
Justus Liebig, im Zentrum aller Attacken, entwickelte beizeiten seine beißende Polemik gegen die Scheinwissenschaftlichkeit der damaligen Landwirtschaftsschulen.

"Der Erklärer begann damit, dem gutmütigen wissensdurstigen Landwirt einen chemischen Hokuspokus mit Analysen vorzumachen, und wenn dessen gesunder Menschenverstand durch bedeutungslose Zahlen und Rechnungen gehörig verdreht war, so ließ er die vorher gedachte Erklärung gleich einem schönen runden und fetten Mäuschen aus dem Ärmel herausspazieren. Nicht immer war zwischen zwei Tatsachen ein so handgreiflicher Zusammenhang wie zwischen Wässern und Graswuchs vorhanden, aber man wußte sich immer zu helfen.
Die Verbindung zweier solcher Tatsachen, z.B. der Erschöpfung des Bodens in der Kultur der Halmfrüchte mit dem Reifen des Korns, stellte der Erklärer her, indem er etwas Leim, sogenannten Erfahrungsleim, dazwischen schmierte. Man hatte vorzüglich zweierlei Sorten Leim 'Knochenleim' und 'Ammoniakleim' oder 'Stickstofleim'. Von letzterem bestand in England eine große Fabrik, berühmt durch die Devise 'Praxis mit Wissenschaft', welche den Bedarf der Deutschen befriedigte. Die Ausdrücke: Die Theorie ist aus dem Leim gegangen, und ähnliche stammen vielleicht davon her."

Ebenso wie die Pseudowissenschaftlichkeit des blinden Empiristen attackiert Liebig die Borniertheit des Pragmatikers, wenn er schreibt:
"Eine der schlimmsten Selten des praktischen Mannes ist seine Empfindlichkeit gegen Widerspruch. Aus dem gänzlichen Mangel an Gründen erklärt sich die Leidenschaft und Zärtlichkeit, die sie für ihre irrigen Ansichten hegen; sie macht sie blind für ihr eigenes Interesse, und taub für jede Belehrung. Wer ihren Vorurteilen nicht schmeichelt, den betrachten sie als ihren Feind; und so muß ich, der ich glaube, ihr offenster und wahrster Freund zu sein, mich schon entschließen, das ganze Gewicht ihrer Verachtung, welche der Stolz auf ihre Erfahrungen ihnen einflößt, mit Resignation zu ertragen, wenn ich die Behauptung zu beweisen suche, daß das seit einem halben Jahrhundert herrschende System des Feldbaus ein Raubsystem gewesen ist, welches, wenn es beibehalten wird, in einer berechenbaren Zeit den Ruin der Felder, die Verarmung ihrer Kinder und ihrer Nachkommen unabwendbar nach sich ziehen wird."

Der Einfluß der modernen Landwirtschaft auf die Ökologie

Das Hauptwerk Liebigs, die weltweit bekannten und in fast alle Sprachen übersetzten Chemischen Briefe, die ab 1865 in einer Volksausgabe erschienen, haben wohl am meisten dazu beigetragen, daß nach langen Auseinandersetzungen der Ackerbau nach wissenschaftlichen Methoden betrieben und allgemein anerkannt wurde, daß pflanzliches und tierisches Leben ohne chemische Prozesse nicht erklärbar sei. Die dümmlichen Angriffe der heutigen Anhänger des sogenannten biologisch-dynamischen Landbaus auf die seit über hundert Jahren erfolgreich angewandten Methoden der Mineraldüngung sollten ein Ansporn sein, die naturwissenschaftliche Bildung der Bevölkerung mit einer ähnlichen erzieherischen Anstrengung wie Liebigs Chemischen Briefen wieder zu verbessern.

Die Ergebnisse moderner Landwirtschaft beweisen schlagend, daß die systematische Anwendung einmal erkannter Naturgesetze die natürlichen Bedingungen unserer Umwelt verbessert.

Die Mineraldüngung oder eine Kombination aus Mineral- und Stallmistdüngung brachte allein auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland im Verlauf der letzten hundert Jahre eine Verfünffachung der Nahrungsmittelerzeugung bei gleichzeitiger Verkleinerung der landwirtschaftlich genutzten Fläche.

Die Mineraldüngung hat nicht nur die Fruchtbarkeit, sondern auch die physikalische Beschaffenheit der Böden ganz entscheidend verbessert. Nicht nur der obere, später geerntete Teil der Pflanze entwickelt sich kräftiger, sondern auch die Wurzeln. Das führt zu einer Erhöhung der Humusanteile der Böden, was sich in vielfacher Hinsicht positiv auswirkt.
1) Die Ackerkrume hat sich in den letzten 100 Jahren um das Dreifache vertieft, was zu einer besseren Speicherung von Nährstoffen und Wasser führt. Dieses Ergebnis kann nicht allein mit einer stärkeren Beackerung durch Schlepper und Pflüge erreicht werden. Im Gegenteil, noch vor Jahrzehnten war ein zu tiefes Bearbeiten der Böden wegen des Heraufpflügens von totem Boden sehr gefürchtet.
2) Ein tieferer Boden ist ein besserer Wasserfilter.
3) Die Mineraldüngung ist unabdingbare Voraussetzung für die Bewirtschaftung unfruchtbaren Bodens, z.B. von Heidesandgebieten und Mooren. Außerdem wird durch eine gezielte Humuswirtschaft der Verwehung und Abschwemmung fruchtbaren Bodens vorgebeugt.
Weiterhin ist die Mineraldüngung absolute Voraussetzung für eine entwickelte Viehzucht, die wiederum die Voraussetzung für mehr Stalldünger ist. Die wesentlich erhöhte Fruchtbarkeit der Böden ermöglichte den Erhalt der Wälder und Naturschutzgebiete, denn ohne Mineraldüngung hatte man selbst bei konstanter Bevölkerungsdichte immer mehr Gebiete für den Ackerbau nutzen müssen.

Intensiv betriebene Landwirtschaft führt außerdem zur Verbesserung der Energiebilanz, zur Erzeugung von Primärenergie, denn die Energiemenge, die durch die Anwendung von Mineraldüngern mit den Ernten gewonnen wird, ist 2,7mal größer als die Energiemenge, die zur Herstellung der Dünger benötigt wird.

Im 13. seiner Chemschen Briefe sagt Liebig: "In den Nahrungsstoffen empfängt der Mensch seinen Leib und täglich in seiner Speise eine Summe von aufgespeicherter, der Sonne entliehener Kraft und Wärme, welche wieder zum Vorschein kommen und wirksam werden, wenn sie in dem Lebensprozeß andernorts wieder werden, was sie waren, wenn die belebten Gebilde wieder in ihre ursprünglichen Elemente zerfallen. Zu dem unzerstörbaren Kraftvorrat unseres Erzkörpers kommt täglich in den Strahlen der Sonne ein Überschuß hinzu, welcher Leben und Bewegung erhält, und so stammt denn alles, was besser ist in uns als das irdene Gefäß — unser Leib — von weiter her, und auch - von diesem geht zuletzt kein Stäubchen verloren."


Entwicklung der Erträge seit 1800
in Dezitonnen je Hektar

  Nahrungsmittel 1800 1900 1979*
  Weizen 10,33 18,4 49,5
  Roggen 9,0 14,9 37,5
  Gerste 8,1 17,8 41,2
  Hafer 6,8 16,6 41,2
  Kartoffeln 80,0 126,0 316,0
  Zuckerrüben # 277,0 466,4

     Quelle: ABEL, "Agrarkrisen und Agrarkonjunktur", 1966
      *) Angaben des Statistischen Bundesamts,
           bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland


Kampf gegen die Esel mit Doktorhut

Die Entdeckung der Naturgesetze des Ackerbaus zählt zweifellos zu den bekanntesten Leistungen Liebigs; nicht weniger bedeutungsvoll ist Jedoch der bahnbrechende Einfluß seiner Forschungstätigkeit auf die Physiologie, Medizin und Pharmazie. Liebig fordert, und auch dazu waren seine Arbeiten aus den Jahren 1831, 1834 und 1838 grundlegend, daß der Prozeß, den organische Verbindungen im Körper durchlaufen, erforscht werde. Nicht länger dürfe man die Leber und Nieren in Mörsern zerstampfen, um zur Kenntnis ihrer Zusammensetzung und ihren Lebensfunktion zu gelangen. Er wird nicht müde, den Unverstand und die schlechten Methoden der damaligen Physiologen, die mit der Chemie auf Kriegsfuß standen und schon deshalb gegen Liebig zu Felde zogen, anzugreifen:
"Diese Leute halten fest an dem Glauben, daß ein Diabetiker mehr Wasser durch den Harn von sich gibt, als er durch den Mund zu sich genommen hat, sie sind es, welche das Wasser wiegen, das der Kranke trinkt, aber dasjenige nicht in Rechnung bringen, das er in der Milch im Brot, im Fleisch zu sich genommen. Sie, die gar nicht die Fähigkeit oder den Willen hatten, die Tatsache zu konstatieren, sie nehmen diesen Unsinn für ausgemachte Wahrheit an. Wenn sie den Geschichten dieser Leute auf den Grund gingen, eine Mühe, die sich niemand nimmt, so würden sie finden, daß es sich mit den Belegen zu diesen Verbrennungen verhält, die mit den Zeugnissen über die Wirkung des schweizerischen Kräuteröls oder der Löwenpomade; alle an die Hersteller gerichteten Briefe kommen retour, und sucht man die Orte auf, wo sie wohnen sollen, so sind gerade die Glatzköpfe, die ihr Haar wiederbekamen, gestorben, oder auf Reisen, man bekommt sie nicht zu Gesicht."

1834 zeigt Liebig in den Annalen der Chemie bereits den Weg, der später zur Erforschung der Stoffwechselzyklen führt. Er schreibt:
"Unsere Einsicht in die geheimnisvollen Prozesse des tierischen Organismus wird eine ganz andere Bedeutung gewinnen, wenn, anstatt uns zu begnügen, die in den verschiedenen Organen vorkommenden Stoffe in zahlreiche andere Verbindungen zu zerlegen, Verbindungen, deren Eigenschaften uns nichts lehren, wenn wir, ohne auf diese Eigenschaften Rücksicht zu nehmen, ihren Veränderungen und Verwandlungen Schritt für Schritt durch die Elementaranalyse folgen. Indem wir auf diese Weise von einem Ringe zum anderen gelangen, nähern wir uns ohne Zweifel dem Punkte immer mehr, von welchem die Kette ausgeht; so unendlich weit er auch entfernt sein mag, allein wir nähern uns."

Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit war Liebigs ganze Sorge immer auf das Gemeinwohl gerichtet. 1840 verfaßte er die Schrift Über das Studium der Naturwissenschaften und den Zustand der Chemie in Preußen, in der er die Vernachlässigung der Naturwissenschaften und den Einfluß der Naturphilosophie an preußischen Universitäten heftig angreift:
"Für die Naturphilosophie ist der Zustand der Materie, den man lebendig nennt, dasselbe, was die otahaitischen Priester für Tabu (unantastbar, heilig) erklären; versucht man, dieses Geschlecht zum Sehen zu bringen, so reißen sie sich lieber die Augen aus. Die Tätigkeit, das Wirken der Naturphilosophen war die Pestilenz, der schwarze Tod des Jahrhunderts. Von ihnen stammen diese des wissenschaftlichen Geistes unwürdigen Meinungen her, daß die Schöpfungskraft der Natur aus verwitterten Gebirgsarten, verwesten Pflanzenstoffen und Regenwasser die mannigfaltigsten Pflanzen, ja selbst Tiere, lebendige Wesen ohne Samen zu erzeugen vermag, daß Läuse bei Kindern in Folge von Krankheitsprozessen entstehen, daß der tierische Organismus fähig ist, Eisen und Phosphor zu erzeugen'.
Wer möchte ihnen nicht mitleidig und nachsichtig das Spielzeug lassen, womit sie, anstatt mit würdigeren Beschäftigungen, ihr Leben ausfüllen, stünden sie nicht an vielen Orten an der Spitze der Universitäten, der Brennpunkte der Wissenschaften, von denen aus die Wahrheit und das Licht sich nach allen Seiten hin verbreiten soll; vergifteten diese falschen Propheten nicht unsere Jugend, und machten sie unfähig, an unseren Forschungen Teil zu nehmen, dem Staate und ihren Mitmenschen zu nützen! Einen Menschen, der im Zustande der Tollheil einen anderen umbringt, sperrt der Staat ein und macht ihn unfähig zu schaden; und ihnen erlaubt man, heut zu Tage noch, unsere Ärzte zu bilden und diesen ihren eigenen Zustand der Tollheit mitzuteilen, der ihnen nach Gewissensruhe und nach Prinzipien erlaubt, Tausende zu töten!"

Heute kann man wieder in erschreckendem Maße beobachten, wie die gleichen unwissenschaftlichen Methoden die Ursache der heutigen Bildungsmisere sind und welchen Schaden fehlgebildete Ökonomen, Physiker, Soziologen, Ökologen, Theaterwissenschaftler, Futurologen usw. im Begriffe sind anzurichten. Die grüne Idiotie, wie sie in Schulen und an Universitäten vorherrscht, gefährdet das Leben von Millionen. Justus Liebig, der in offener polemischer Art gegen die Malthusianer und Mystiker — die damaligen Nullwachstümler — ankämpfte, brachte zwangsläufig politische Gegner auf den Plan. Fürst Metternich, der Feind aller wahren Wissenschaft, antwortete 1840 mit einem Ruf nach Wien, in der Hoffnung, Liebig in den Wiener Kreisen völlig unter Kontrolle bringen zu können. Man hätte ihm ein ansehnliches Honorar geboten, eine komfortable Wohnung und ein Privatlabor, aber man hätte zu verhindern gewußt, daß Liebig eine auch nur annähernd einflußreiche Lehrtätigkeit hätte ausüben können. Eine Situation, wie er sie in Gießen vorfand, wo er Hunderte von Studenten mit seiner wissenschaftlichen Methode vertraut machen, sie zu wirklichen Wissenschaftlern heranbilden und somit der Chemie weit über Deutschlands Grenzen hinaus zu einem enormen Aufschwung verhelfen konnte, eine solche Voraussetzung hätte man ihm in Wien verweigert. Aus diesem Grund entschloß sich Liebig, in Gießen zu bleiben.

Ab l842 erschienen in der von Baron Georg von Cotta verlegten Augsburger Allgemeinen Zeitung die ersten Chemischen Briefe, die in den darauffolgenden Jahren wesentlichen Anteil an der naturwissenschaftlichen Bildung weiter Teile der europäischen und amerikanischen Bevölkerung hatten.

Liebig ließ keinen Zweifel daran, daß die Chemischen Briefe ein großes Publikum erreichen und dazu beitragen sollen, die Bedeutung der Chemie für das menschliche Leben aufzuzeigen. Die Briefe wurden mit Begeisterung von seinen ehemaligen Schülern in England und Italien gelesen und sogleich übersetzt. Noch bevor 1844 die erste deutsche Ausgabe in Buchform erschien, wurde die erste englische Aufläge der Familiars Letters on Chemstrie, die 16 Briefe enthält, 1843 herausgebracht. Ebenfalls noch vor der deutschen Ausgabe erschien eine italienische Übersetzung von Giovanni Domenico Bruni und die erste amerikanische Auflage. 1844 und 1845 wurden die erste holländische, dänische, schwedische, polnische, spanische und französische Auflage veröffentlicht, 1847 eine russische. In den darauffolgenden Jahren erschienen immer wieder neue, erweiterte Auflagen, in die Liebig auch seine an der Akademie der Wissenschaften in München gehaltenen Vorträge einfügte.


Zurück zur Kultur-Hauptseite: