September 2005:
Amerika hatte lange keinen Zivilschutz
Die mobilen Pumpen des THW sind Tag und Nacht in New Orleans im Einsatz.
Amerika hatte lange keinen Zivilschutz
Jürgen Maier ist seit 45 Jahren beim Technischen Hilfswerk (THW) und seit 30 Jahren im Katastrophenabwehrstab der Stadt Frankfurt tätig. Er hat das Amt des Ortsbeauftragten des THW und damit des Chefs des Frankfurter THW vor zwei Jahren abgegeben. Heute ist er amtierender und ehrenamtliche Landessprecher des THW für Hessen. Das Gespräch mit ihm führte Renate Leffek am 14. September.
Herr Maier, wir haben alle mit Entsetzen zusehen müssen, wie eine Supermacht, die USA, unfähig war, nach dieser schrecklichen Flutkatastrophe schnell und adäquat zu handeln. Von Seiten der Regierung Bush und Cheney wurde viel zu spät gehandelt. Die Medien berichten seit Tagen, daß Warnungen frühzeitig mitgeteilt wurden und seit Jahren ein besserer Deichschutz gefordert wurde, aber keine Gelder zur Verfügung gestellt wurden. Der Heimatschutz wurde seit dem 11.9.2001 hauptsächlich auf Anti-Terror-Maßnahmen ausgerichtet, der Katastrophenschutz völlig vernachlässigt.
Nun haben viele Länder, z.B. Deutschland, Schweden und sogar Länder der
Dritten Welt wie Indien und Mexico, die Erfahrungen mit den Flutkatastrophen gesammelt hatten, ihre Hilfe angeboten. Indiens und Schwedens Hilfe wurde abgelehnt. Wie sehen Sie diese Entwicklungen? Wie hat Amerika auf die Hilfsangebote reagiert?
Maier: Man muß vielleicht etwas in die Geschichte
zurückgehen. Amerika hatte niemals einen funktionierenden Zivilschutz und überhaupt nicht daran gedacht, einen Zivilschutz aufzubauen. Als wir in den 70er oder 80er Jahren einen Zivilschutz aufgebaut hatten, und ich viele Übungen auch in Stäben mitgemacht habe, standen die Amerikaner immer fassungslos da und haben nicht verstanden, was wir damit wollten. Das heißt, einen Zivilschutz, der die Voraussetzung für den Schutz der Zivilbevölkerung bei kriegerischen Auseinandersetzungen ist, hat es in den USA nicht gegeben. Amerika war immer sicher, daß es nicht angegriffen wird, daß nie etwas Derartiges passiert. Sie haben ihre Feuerwehr als Katastrophenschutz, und da gibt es die Town Firebrigade und die District Firebrigade - und dann ist Schluß. Einen Zivilschutz in unserem Sinne hatten sie nicht. Als ich einmal in Texas nach dem Zivilschutz gefragt habe, hieß es, das macht die Nationalgarde. Das war kein Zivilschutz, sondern eine Art Heimatschutz. Erst nach dem 11. September hat man darüber nachgedacht, einen Zivilschutz einzurichten, damit die großflächigen Schäden und Schäden, die über den örtlichen Bereich hinausgehen, überhaupt bekämpft werden können. Das war für mich die Gründung des Zivilschutzes in Amerika.
Um noch einmal auf die Frage zurückzukommen, wie haben die USA auf die
Hilfsangebote reagiert? Sie haben einen Mr. Brown, der früher beim Gericht war und überhaupt keine Voraussetzung für diese Aufgabe mitgebracht hatte, an die Spitze der FEMA gesetzt. Zivilschutz ist fast eine militärstrategische Sache, dabei werden Einsatzeinheiten geführt und großflächig technisch ausgebildete und ausgerüstete Einheiten eingesetzt.
Fachkenntnisse und Führungsfähigkeit sind gefordert. Die Amerikaner haben auf die Hilfsangebote offensichtlich zuerst nicht reagiert. Bereits am 28./29. August, als die Katastrophe passiert ist, hat Deutschland sofort technische Hilfe angeboten.
Die Hilfeersuchen für solche Katastrophenfälle im Ausland werden von dem betroffenen Staat über das Bundesaußenministerium, dann an das
Bundesinnenministerium und von dort aus über das THW abgewickelt. Wir sind die staatliche nationale Auslandshilfsorganisation Deutschlands. Nach meiner Information ist zuerst auf die Hilfsangebote nicht geantwortet worden.
Die Schweden haben angeboten, die Schweiz hat angeboten, die Franzosen haben angeboten. Das wurde offenbar zunächst nicht beachtet.
Wissen Sie, aus welchem Grunde man nicht geantwortet hat?
Maier: Wenn man nicht antwortet, braucht man keine Begründung zu geben, und die Lage wurde offensichtlich unterschätzt. Erst nachdem die Medien über die katastrophale Situation berichtet haben und der Bürgermeister von New Orleans "Dampf" gemacht und nach außen dokumentiert hat, was wirklich los war, hat man sich entschlossen, die Hilfsangebote anzunehmen.
Es gab auch weitere Hilfsangebote aus Deutschland, aber bis jetzt sind nur eine ca. 100 Mann starke Einheit des THW gemeinsam mit der JUH
[Johanniter-Unfallhilfe] und einige wenige Mitarbeiter vom Roten Kreuz vor Ort. Jetzt erst! Es ist über eine Woche Zeit sinnlos verstrichen. Man hat nichts getan und man hätte sofort helfen können.
Wenn man bedenkt, wie schnell die Hilfe bei der Katastrophe in Südostasien da war, und sogar die Amerikaner dort waren! Aber daß man hier so lange gewartet hat, ist einfach unverständlich. Das ist ein ganz schlimmer Fall, daß man die eigene Bevölkerung im Stich läßt, um es vorsichtig zu formulieren.
Man hat das Gefühl, daß in den letzten Tagen überhaupt keine adäquate Berichterstattung über die Entwicklungen im Katastrophengebiet zu hören ist. Haben Sie einen Überblick, wie die Lage vor Ort aussieht? Man berichtet nicht über die Toten, die Seuchengefahr oder die Versorgung der Bevölkerung.
Maier: Ja, ich habe einige Lagemeldungen da. Generell ist festzustellen, wenn sich bei uns in Hessen so eine Katastrophe ereignete, würden sich der Landeskatastrophenstab und auf verschiedenen Ebenen zentrale Einsatzstäbe bilden. Es würde eine zentrale Einsatzleitung auf Landesebene eingesetzt, das gab es offensichtlich in Amerika nicht. Die Hilfe scheint am Anfang relativ unkoordiniert gewesen zu sein. Jetzt hat ein Admiral die Leitung
übernommen.
Es gibt jetzt einen Militärstrategen und Fachmann im Führungsbereich, der das ganze von der Führung her militärisch aufrollt, der jetzt erst beginnt, die führungstechnische Infrastruktur zu schaffen, die gar nicht da war.
Unsere Leute, die auf einem Flugzeugträger untergebracht sind, haben
verschiedene Einsatzstellen. Sie sind jetzt z.B. beim berühmten Pumpwerk 19 und helfen dort bei der Instandsetzung.
Wie wichtig war denn der Einsatz des THW?
Maier: Ich habe gestern abend im HR einen Bericht von einem Helfer gehört und auch von einem Einsatzleiter aus Schleswig-Holstein. Sie haben beide erzählt, daß die Bevölkerung die Hilfe mit großer Freude aufnimmt. Über die Regierung haben sie sich nicht geäußert, man muß da ja diplomatisch vorgehen. Die Stadt New Orleans war sehr dankbar, daß wir die großen Pumpen zum Einsatz gebracht haben, so große Pumpen haben sie dort nicht. Es gibt sie in Amerika zwar stationär, aber nicht, wie wir sie haben, ortsveränderlich für Katastropheneinsätze.
Ein ganz wichtiger Punkt ist folgender: Wir haben durch unsere Ausbildung gelernt, in großen Schadensgebieten mit der betroffenen Bevölkerung umzugehen. Das ist ganz, ganz wichtig. Der Bevölkerung muß innerhalb kurzer Zeit wieder ein Inhalt oder ein Führungsinstrument an die Hand geben werden, an das sie glauben kann. Das heißt, Sie müssen die Bevölkerung beschäftigen, Sie müssen der Bevölkerung einen Versammlungspunkt geben: Da sammeln wir uns, da treffen wir
uns. Wenn Sie das nicht tun, haben wir gelernt, daß in zwei, drei Tagen die Stimmung der Bevölkerung umkippt. Sie fühlen sich allein gelassen. Es beginnt ein Kampf jeder gegen jeden. Es geht dann ums nackte Überleben, der Egoismus setzt sich durch. Daß von außen Banden kommen, ist eine andere Sache. Aber was sich dort abgespielt hat in den ersten Tagen, daß die Menschen völlig durchdrehten, ist ein Lehrbuchbeispiel für ein Schreckensszenario.
Wir haben gelernt, daß die Bevölkerung schnellstens zielgerichtet in die Rettungsarbeiten eingebunden werden muß. Daß man sagt, die Frauen und Kinder transportieren wir dahin, alle Männer, die arbeitsfähig und willig sind, melden sich an bestimmten Sammelpunkten. Techniker und Handwerker werden bestimmten Fachgruppen zugeteilt, um speziellere Arbeiten zu übernehmen. Die übrigen werden ausgerüstet mit Schaufeln und Werkzeugen und beauftragt, Außenbezirke aufzuräumen. Frauen mit qualifizierten Berufen - Krankenschwestern, Lehrerinnen, Erzieherinnen usw. - sollten ebenfalls sinnvoll eingebunden werden. Es ist wichtig, die Bevölkerung über die Lage und die Rettungsarbeiten laufend zu
informieren und wissen zu lassen: Wir kommen voran.
Das alles hat ja gar nicht stattgefunden. Hunderte von Schulbussen standen da und wurden vom Wasser überrascht, weil sie nicht fahren sollten oder durften. Damit hätte man Menschen transportieren können. Man hat sie fast eine Woche dahindümpeln lassen und sich dann über die Reaktionen gewundert.
Ist denn jetzt eine Koordinierung vorhanden, oder herrscht weiterhin Chaos?
Maier: Nein, jetzt ist ja ein Admiral da, der die Dinge anscheinend in den Griff bekommt. Es ist eben jetzt ein Fachmann da.
Lyndon LaRouche hatte in seiner Presseerklärung den Einsatz des
Militärs gefordert. Was damit ja wohl stattfindet. Wie würde der Einsatz bei uns in Deutschland aussehen?
Maier: In einem solchen Großschadensfall haben wir zivile Führungsstrukturen geschaffen. In Deutschland gibt es zivile Einsatzstäbe, und erst wenn diese nicht ausreichen, kommt die Bundeswehr auf Weisung der Bundesregierung hinzu.
Die Einsatzstäbe haben die Voraussetzungen und die Instrumentarien, um eine Infrastruktur für eine Gefahrenabwehr und Bekämpfung zu schaffen. Das gibt es offensichtlich in den USA nicht. In Großschadensfällen müssen sie das Militär oder die Nationalgarde nehmen.
In den USA hat man seit dem 11. September 2001 die Antiterroreinheiten auf Kosten des Katastrophenschutzes massiv aufgebaut. Wie sieht das hier mit der Sparpolitik aus? Sind hier ähnliche Kürzungen und Einsparungen im Katastrophenschutz vorgenommen worden?
Maier: Bei uns läuft das genau umgekehrt. Wir hatten bis in die 90er Jahre einen sehr gut ausgebauten Zivil- und Katastrophenschutz, bis damals die Regierung Kohl und Bundesinnenminister Kanther große Teile des Katastrophenschutzes zerschlagen haben. Wir haben damals heftig protestiert. Und haben gewarnt, daß es weiterhin Gefahren gibt. Wir Ehrenamtlichen haben ein
Memorandum verfaßt, das wir hier in Frankfurt veröffentlicht haben. Es gibt fanatische Gruppen, und auch Naturkatastrophen können auf uns zukommen. Wir haben gesagt: Baut den Katastrophenschutz in der vorgesehenen Form nicht ab. Ohne Rücksicht, ja ohne jede Einsicht wurde der Katastrophenschutz radikal abgebaut.
Das war eindeutig von allen Parteien im Bundestag mitgetragen worden.
Dann kam der 11. September. Da hat man festgestellt, da kann ja doch was kommen. Ein politischer Mann, dem ich früher nie nahestand, im Gegenteil, der Herr Schily, hat das Thema aufgegriffen in einer Art und Weise, die erstaunlich war. Es kam die Überflutung der Oder, dann der Elbe und man hatte festgestellt, daß man die zerstörten Führungsstrukturen schnell wieder aufbauen mußte. Es fand ein Aufbau statt, vorwiegend mit Bundesmitteln, nicht aus den Landeshaushalten.
Die Mittel sind nicht gekürzt worden, obwohl überall gekürzt wurde. Es ist unglaublich, aber man hat die Gefahr erkannt.
Aber jetzt fangen die Länder an, und wollen den bundeseinheitlichen
Zivilschutz über die Föderalismusdebatte zerschlagen. Das haben die Herren Koch, Stoiber und Wulff befürwortet.
Den wahren Grund kann ich Ihnen aufzeigen: Der Bund gibt etwa 240-250
Millionen Euro für den Zivilschutz aus. Davon kostet das Technische Hilfswerk ca. 130 Millionen Euro, und den Rest gibt der Bund für die Bezuschussung von Feuerwehrzügen, von ABC-Schutzeinheiten etc. aus. Die Länder haben sich jetzt in der Föderalismuskommission ausgerechnet, das ihnen ein großer Teil dieser Millionen zufallen würde. "Das teilen wir fein unter uns auf, und dann können wir sogar noch unseren Landeshaushalt damit füttern." Genau so ist es. Armselige
Krämerseelen. Es ist erbärmlich, was die Länder für den Katastrophenschutz ausgeben, das meiste wird von den Kommunen und Landkreisen in den Ländern bezahlt.
Noch einmal: Für den Katastrophenschutz und die örtliche Gefahrenabwehr sind die Länder und die Kommunen verantwortlich. Für den Zivilschutz ist der Bund verantwortlich.
Muß man auch hier mit Flutkatastrophen rechnen? Sind die Deiche sicher genug, oder ist schon zuviel eingespart worden?
Maier: Im Katastrophenschutz gibt es ein Sprichwort: So dumm wie es kommt, können sie vorher nie denken. Es kommt immer auf die Intensität an. Wenn sich heute, wie es etwa 12 000 v. Chr. war, die Nordscholle senkt und untertaucht, käme es zu gigantischen Überschwemmungen. Eines ist klar: Unsere Deiche werden kontinuierlich von allen Bundesländern ausgebaut und ständig genau überwacht. Sie sind nach meiner Ansicht auf alle Fälle sicherer als die in den USA. Wenn mir bekannt ist, daß eine Stadt 7-8 m unter dem Meeresspiegel liegt, muß ich doch dafür Sorge tragen, das die Deiche
in einem sicheren Zustand sind. In Amerika ist ja vorher viel gewarnt worden, und man hat trotzdem die Mittel abgezogen. Das ist für mich sträflicher Leichtsinn. Hoffentlich haben die USA jetzt erkannt, daß ein Zivil- und Katastrophenschutz unabhängig vom militärischen Bereich notwendig ist. Der Katastrophenschutz muß eine Zusammenstellung aus verschiedenen Fachdiensten sein und gut ausgebildet sein und gut zusammenarbeiten.
Herr Maier, vielen Dank für das Gespräch.
Zurück zur Politik-Hauptseite: