September 2001, Teil 1:
Pfad:> Partei BüSo> BüSo Hessen> Kultur> Archiv


Thomas Morus - oder wie Politiker sein sollten


In einer sehr ungewöhnlichen Erklärung erhob Papst Johannes Paul II. im November 2000 den englischen Humanisten Sir Thomas More zum Schutzpatron und Vorbild aller Regierenden und Politiker. Wer ist dieser Mann, wie hat er in seiner Zeit und über diese hinaus gewirkt? Der Aufsatz schildert sein Leben vor dem Hintergrund der Tudor-Renaissance unter Heinrich VII. und der Tragödie, die England unter dessen Sohn, König Heinrich VIII., erlebte.


Von Muriel Mirak-Weißbach, Teil 1


Wieviel Leid und Elend gibt es in der heutigen Welt -- Kinder sterben, bevor sie fünf Jahre alt sind; Mütter müssen Nahrungsmittel stehlen, damit ihre Kinder essen können; Hunderttausende Familien wandern ziellos herum, weil sie Schutz suchen vor Krieg, Dürre, Hunger und überschwemmungen; Seuchen greifen um sich und dezimieren die jungen Generationen, unsere Zukunft. Warum tut niemand etwas, um dieses Elend zu beenden? Die Ursache ist das moralische Versagen der politischen Führung.

Unsere Gesellschaft ist eine sterbende imperiale Ordnung, sie schwindet dahin, begleitet vom gleichen Gestank der Dekadenz, der auch den Untergang anderer Imperien in der Geschichte begleitete. Die Ursachen dieses Verfalls liegen nicht in "objektiven historischen Prozessen". Er ist eine Folge konkreter Handlungen -- beziehungsweise Unterlassungen -- von Individuen in Machtpositionen. Er ist eine Folge der Unmoral der politischen Führung und der Unmoral all jener, die eine solche Führung hinnehmen oder sogar wählen. Diese Unmoral ist verantwortlich für das unaussprechliche Leiden von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt.

Wie kann man diesen Prozeß umkehren, bevor es zu spät ist? Die einzige Möglichkeit ist eine radikale Veränderung der Moral und des Verhaltens der politischen Führung. Und genau deswegen ist es so bedeutsam, daß Papst Johannes Paul II. Thomas Morus zum Schutzpatron der Regierenden und Politiker ernannt hat. Die feierliche Erklärung vom 4. November 2000 ist eine außergewöhnliche Herausforderung für alle Politiker der heutigen Welt -- von Präsidenten und Regierungschefs bis hin zu Parlamentariern oder Beamten auf staatlicher und lokaler Ebene. Der Papst fordert die Politiker und Staatsmänner auf, dem Beispiel des großen Humanisten zu folgen und Politik so zu begreifen und zu verkörpern, wie er es tat.

In seiner Rede am 4. November 2000 sagte Papst Johannes Paul II. an die Politiker gewandt: "Ihre Aufgabe darf in der Tat als eine wirkliche und wahre Berufung zum politischen Handeln angesehen werden: d.h. die Berufung zum Regieren über die Nationen, zur Gestaltung von Gesetzen und zur Verwaltung des Staates auf verschiedenen Ebenen." Der Pontifex stellte dann das Wesen der Politik aus christlicher Sicht dar:

"Die Politik ist die Anwendung der rechtmäßigen Gewalt, um zum Gemeinwohl der Gesellschaft zu gelangen... Politisches Handeln muß sich deshalb im Geist des Dienstes entfalten. Gerechtigkeit soll die hauptsächliche Sorge des Politikers sein: eine Gerechtigkeit, die sich nicht darauf beschränkt, jedem das Seine zu geben, sondern danach strebt, unter den Bürgern gleiche Möglichkeiten zu schaffen. Auf diese Weise fördert man diejenigen, die auf Grund ihrer sozialen, kulturellen und gesundheitlichen Lage Gefahr laufen, benachteiligt zu werden oder immer den letzten Platz in der Gesellschaft einzunehmen, ohne eine Möglichkeit, sich persönlich zu verbessern.

Es ist der Skandal der Wohlstandsgesellschaften der heutigen Welt: Die Reichen werden immer reicher, denn der Reichtum produziert Reichtum, und die Armen werden immer ärmer, weil die Armut dazu neigt, neue Armut hervorzubringen. Dieses Ärgernis besteht nicht nur innerhalb der einzelnen Nationen, sondern hat Dimensionen angenommen, die ihre Grenzen bei weitem überschreiten. Die reichen und hochentwickelten Länder tendieren vor allem heute auf Grund der Globalisierung der Märkte dazu, ihre Wirtschaftslage noch mehr zu verbessern, während die armen Länder -- mit Ausnahme einiger, die eine vielversprechende Entwicklung aufweisen -- in immer schmerzlichere Armut zu geraten scheinen.

In einer nunmehr globalisierten Welt tendiert der Markt dazu, jede moralische Rücksicht abzulegen, während er das Gesetz des höchsten Profits als oberste Regel ansetzt. Deshalb haben die Christen, die sich von Gott zum politischen Leben berufen fühlen, die gewiß recht schwierige, aber notwendige Aufgabe, die Gesetze des ,wilden' Marktes den Gesetzen der Gerechtigkeit und Solidarität unterzuordnen."

Hier bezieht sich der Papst auf ein höheres Prinzip, das im Zentrum seiner Soziallehre steht, daß nämlich das Gesetz mit dem Naturrecht übereinstimmen müsse. Die Politiker, deren Aufgabe und Verantwortung darin bestehe, Gesetze zu erlassen, hätten eine Aufgabe, "durch die der Mensch Gott, dem obersten Gesetzgeber, näher kommt, aus dessen ewigem Gesetz letztlich jedes Gesetz seine Gültigkeit und verbindliche Kraft schöpft. Gerade darauf will man durch die Bekräftigung anspielen, daß das positive Gesetz dem Naturgesetz nicht widersprechen darf, weil letzteres nichts anderes ist als die Weisung der ursprünglichen und grundlegenden Normen, die das moralische Leben regeln, d.h. die Merkmale, innersten Ansprüche und höchsten Werte der menschlichen Person."

Papst Johannes Paul II. schrieb dazu in der 1995 verkündeten Enzyklika Evangelium vitae: "Grundlage dieser Werte können nicht vorläufige und wechselnde Meinungs,mehrheiten' sein, sondern nur die Anerkennung eines objektiven Sittengesetzes, das als dem Menschen ins Herz geschriebenes ,Naturgesetz' normgebender Bezugspunkt eben dieses staatlichen Gesetzes ist."

Heute ist es an der Zeit, daß die Politiker, die für das Schicksal der Menschheit verantwortlich sind, den Vorrang des Naturrechts verteidigen, denn "die Zeiten, die Gott uns zu leben aufgibt, sind weitgehend dunkel und schwierig, denn es sind Zeiten, da die Zukunft der Menschheit in dem uns bevorstehenden Jahrtausend auf dem Spiel steht".


Thomas Morus, der christliche Streiter

Thomas More Thomas Morus, zweifellos der größte Staatsmann im Tudor-England, verkörpert das Ideal des verantwortungsvollen Christen, der seine bürgerlichen Pflichten im Interesse des Gemeinwohls erfüllt. Ironischerweise hatte Morus ursprünglich überhaupt nicht die Absicht, Politiker zu werden. Seine erste starke Neigung ging dahin, sein Leben der Religion zu widmen. Erst nach jahrelangen inneren Kämpfen rang er sich dazu durch, die Verantwortung politischer Führung zu akzeptieren. Dabei betrachtete er seine Aufgaben als eine kompromißlose Erfüllung des Dienstes an Gott und war bereit, für seine Verpflichtung zur Wahrheit schließlich sogar mit dem Leben zu bezahlen.

Seinen außergewöhnlichen Charakter verdankte Morus einer außergewöhnlichen Erziehung, zunächst in seiner Familie, und dann in der Beschäftigung mit der klassischen Kultur, die über die italienische Renaissance nach England vermittelt worden war.

Die Kraft, die seinen Charakter in seinen familiären Beziehungen und in seiner politischen Karriere prägte, war die Liebe. 1477 oder 1478 geboren, wuchs er in der Obhut liebevoller Eltern, des Juristen John More und dessen Frau Agnes, auf. Als seine Mutter starb und John More wieder heiratete, wurde der junge Thomas nicht vernachlässigt, sondern weiterhin liebevoll umsorgt. Auch umgekehrt nahm seine Liebe zur Familie nie ab, obwohl der Vater viermal heiratete. Sein engster Freund, Erasmus von Rotterdam, schrieb: "Man dürfte kaum Leute finden, die sich mit ihrer Mutter so verstehen wie er mit seiner Stiefmutter; sein Vater hatte nämlich schon die zweite geheiratet, beide liebte er so wie eine Mutter; neulich führte (sein Vater) die dritte ins Haus. More schwört bei allen Heiligen, er hätte nie eine bessere gesehen." Nachdem er sich später selbst vermählt hatte und seine erste Frau starb, heiratete er aus Rücksicht auf die Kinder bald wieder und liebte seine zweite Ehefrau genauso wie die erste.

Die große Liebe und Fürsorge der Eltern gab er später an die eigene Familie weiter, indem er sich intensiv um ihre Erziehung und geistige Entwicklung bemühte. Erziehung war für ihn ein Ausdruck von Liebe, indem man im anderen das von Gott geschenkte Potential des schöpferischen Denkens entwickelt, das in jedem Kind vorhanden ist.

Daher war er bestrebt, seine Frau, und nach ihrem Tode auch seine zweite Frau, in Musik und Literatur zu unterweisen. Sein größtes Interesse galt dem Fortschritt der Erziehung seiner Kinder, wie er in seinen Briefen von diplomatischen Missionen im Ausland oder später aus dem Gefängnis offenbart. Erziehung war für More der Weg, durch den die Menschen ihre wahre Humanität entfalten konnten. Erasmus verglich Mores Heim mit Platons Akademie.

Thomas' eigene frühe Erziehung begann an der St.-Anthony's-Schule, wo Nicholas Holt ihn in Latein und Religion unterrichtete. Holt war auch der Lehrer zweier anderer Humanisten gewesen, William Latimer sowie John Colet, der später 1510 die berühmte St.-Pauls-Schule gründete.

Danach kam Thomas als Page in den Haushalt des Lordkanzlers und Erzbischofs von Canterbury und späteren Kardinals John Morton. Morton war der wichtigste Berater Heinrichs VII. Wie Mores Schwiegersohn William Roper in seiner Biographie Das Leben des Sir Thomas More berichtet, staunte der Kardinal über die Kreativität des jungen Thomas, der z.B. ohne Vorbereitung am Weihnachtsspiel teilnahm, indem er einfach eine neue Rolle für sich selbst erfand. Der Kardinal war "von dessen Geist und Aufgewecktheit dermaßen entzückt, daß er des öfteren zu seinen adligen Gästen zu sagen pflegte: ,Jeder, der lange genug lebt, um es noch zu erfahren, wird erleben, daß dieser Knabe, der hier am Tisch bedient, sich noch einmal als fähiger, hervorragender Mann erweisen wird.'"

Später schickte ihn der Kardinal nach Oxford, damit er dort Griechisch und Latein sowie Theologie und Naturwissenschaften studierte. Nach drei Jahren kehrte Thomas nach London zurück, um zunächst in New Inn und dann in Lincoln's Inn Rechtswissenschaften zu studieren. Er wurde Anwalt, aber er liebte die Juristerei nicht. Er begann mit Vorlesungen über Augustinus' Gottesstaat in der Kirche St. Lawrence, "wo sich auch Dr. Grocyn, ein hervorragend gebildeter Mann, einfand und mit ihm alle führenden Gelehrten der Stadt London". Obwohl Thomas auf Wunsch des Vaters der Familientradition folgend Jura studierte, galt seine wahre Neigung der Theologie und Philosophie.

Zu jener Zeit, im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts, hatte sich London zu einem Zentrum der größten Gelehrten entwickelt. Dazu zählten vor allem die Humanisten, die die Saat der Goldenen Renaissance aus Italien mit zurückgebracht hatten, um sie in den fruchtbaren Boden Tudor-Englands einzupflanzen. Mit der Thronbesteigung des Tudor-Königs Heinrich VII. 1485 war England auf dem Weg, ein moderner Nationalstaat zu werden. Nach den Rosenkriegen, die das Land zerrissen hatten, stellte Heinrich VII. die nationale Einheit wieder her. Er suchte nach "großen Köpfen", die zum Aufbau einer modernen Nation beitrugen. Viele italienische Humanisten besuchten England, vor allem aber wurde durch die Reisen englischer Gelehrter nach Italien das "New Learning" (Neues Lernen) der Renaissance in England eingeführt. Eine führende Rolle dabei spielten William Grocyn, William Lily, John Colet und Thomas Linacre. Das für Mores Entwicklung wichtigste Mitglied dieses intellektuellen Zirkels war Erasmus von Rotterdam, der 1499 London zum ersten Mal besuchte und in späteren Jahren regelmäßig Mores Gast war.


Die italienische Renaissance

Im 14. Jahrhundert durchlebte Europa eine Zusammenbruchskrise, die durchaus mit der heutigen Situation vergleichbar ist. Mit dem Bankrott der Bankhäuser der Bardi und Peruzzi brach die gesamte damalige feudale Ordnung zusammen und mit ihr die auf Wucher basierenden Finanzstrukturen, die dieses System aufrechterhalten hatten. Der nun folgende wirtschaftliche Zusammenbruch schuf Bedingungen, unter denen sich Seuchen rasch verbreiteten; im Verlauf der 1348 ausgebrochenen Pestepidemie wurde fast die Hälfte der Gemeinden in Europa ausgelöscht.

Was war die Ursache dieser größten Katastrophe Europas in der Neuzeit? Dante Alighieri, der vor dieser Katastrophe lebte und schrieb, hatte sie in gewissem Sinne kommen sehen. Dante sah die Ursache des gesellschaftlichen Übels in der Dummheit und Bosheit der politischen Führer. Ihre Habgier, ihre Gier nach Macht, ihre Mißgunst und Arroganz als Sklaven ihrer tierischen, irrationalen Triebe führte dazu, daß sie die Befriedigung der eigenen Wünsche oder der ihres Clans auf Kosten der Gesamtheit der Bevölkerung suchten.

Die Feudalgesellschaft gründete wie schon die Gesellschaften der antiken Imperien auf der Vorstellung, die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft sei nicht mehr als Menschenvieh, über das eine kleine oligarchische Clique herrscht -- so daß 95 Prozent der Gesellschaft auf immer in diesem viehischen Zustand verharren würden.

Was Dante erkannte und in seiner Comedia vermittelte, war das gegenteilige Menschenbild: Der Mensch war nicht von Natur aus tierisch, sondern vielmehr die Krone der Schöpfung. Aber er konnte seine wahre Natur nur bis zu dem Grad ausüben, zu dem er das entwickelte, was ihn als Menschen auszeichnete: seine Fähigkeit, schöpferisch zu denken. Dante begriff, daß der Mensch nur in dem Maße soziale Gerechtigkeit praktizieren konnte, wie er begriffen hatte, daß die Gesellschaft in Übereinstimmung mit den Gesetzen des göttlichen Universums organisiert werden muß. Es war die besondere Leistung von Dantes Comedia, die Denkmethode zu vermitteln, die solche moralischen Führungspersönlichkeiten für die Zukunft erziehen würde.

Der Triumph dieses neuen Menschenbildes führte die Menschheit aus der Katastrophe des 14. Jahrhunderts heraus. Das Konzil von Florenz 1439 war der Ausgangspunkt; hier wurde das von Dante angekündigte neue Menschenbild als Grundlage der christlichen Doktrin verkündet. Beim Konzil von Florenz hatten Nikolaus von Kues und andere die Idee des "filioque" wiedereingeführt -- jene Passage des Glaubensbekenntnisses, worin es heißt, daß der Hl. Geist sowohl vom Vater als auch vom Sohne ausgeht, daß also der Mensch als Ebenbild des Schöpfergottes geschaffen ist und an der göttlichen Schöpferkraft teilhat.

Daher hat der Mensch die Fähigkeit zu kreativen Entdeckungen und ist nur bis zu dem Grade wirklich Mensch, bis zu dem er diese Fähigkeit entwickelt und ausübt. Aller Fortschritt hängt von der Entwicklung der Erkenntnisfähigkeit des individuellen menschlichen Geistes ab, denn nur durch wissenschaftliche Entdeckungen universeller Prinzipien erreicht der Mensch fortschrittliche Veränderungen in der gesellschaftlichen Ordnung. Neue Technologien steigern die Macht des Menschen über die Natur. Das ist mehr als ein Geschenk Gottes an den Menschen, es ist auch ein göttlicher Imperativ, dieses Geschenk in sich selbst wie auch in anderen zu entwickeln und zu nutzen. Nur dann ist der Mensch wirklich gottähnlich, wenn er am Schöpferischen teilhat und den Prozeß der Schöpfung befördert.

Aus diesem Menschenbild erwachsen bestimmte Konsequenzen für die Sozial- und Wirtschaftspolitik. Eine als Staat organisierte Gesellschaft kann nur moralisch sein, soweit sie diese einzigartige Qualität des Menschen respektiert und die institutionellen Mittel bereitstellt, um das schöpferische Potential jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft durch wissenschaftliche und künstlerische Erziehung zu entwickeln. Dazu muß sie auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so setzen, wie es das Gemeinwohl erfordert.

Die Errungenschaften des Florentiner Konzils ermöglichten die ersten souveränen Nationalstaaten: Frankreich unter Ludwig XI. und England unter Heinrich VII.


Die Tudor-Renaissance

Erasmus von Rotterdam Die Menschen, die die italienische Renaissance nach England brachten, waren fast alle Kirchenmänner. Sie brachten die Kenntnis der griechischen Sprache mit, Manuskripte griechischer Klassiker, darunter wissenschaftliche Werke, ebenso die Werke der Italiener von Dante über Petrarca bis Boccaccio, darunter u.a. Lorenzo, Poliziano und Pico della Mirandola. Nach ihrer Rückkehr nach England verbreiteten sie das "neue Lernen", u.a. indem sie neue Lehrinstitute gründeten. Betrachten wir kurz die wichtigsten dieser Männer.

William Grocyn (1446-1519), einer der führenden Oxford-Humanisten, war 1488 zur Zeit von Lorenzo de Medici (Il Magnifico) nach Florenz gereist, um dort unter Poliziano Griechisch zu studieren. Nach seiner Rückkehr nach Oxford lehrte er Griechisch und Theologie, und unter seinen enthusiastischen Studenten befand sich Thomas More. Es war Grocyn, der More einlud, an seiner Pfarrkirche St. Lawrence Vorlesungen über Augustinus' De civitate Dei zu halten. Grocyn war auch ein enger Freund und Förderer des Erasmus, und dieser nannte ihn "den Ersten unter den vielen Gelehrten Englands" und "unser aller (aller Humanisten) Patron und Wohltäter". Nach seinem Tod hinterließ Grocyn die damals bedeutende Zahl von 105 gebundenen Büchern und 17 Handschriften klassischer Werke.

Thomas Linacre (1460-1524) hatte mit Grocyn zusammen in Florenz Griechisch studiert, widmete sich zusätzlich der Medizin und promovierte in Padua. Er übersetzte Werke von Galen ins Lateinische und schrieb für Prinzessin Mary eine lateinische Grammatik in englischer Sprache. Linacre war auch Mores Griechischlehrer. Seine größte Leistung war die Gründung des Royal College of Physicians in London, deren erster Präsident er wurde. Linacre wurde später Erzieher des Prinzen Arthur und Leibarzt Heinrich VIII.

John Colet (1466-1516) studierte zuerst in Oxford und reiste dann nach Frankreich und Italien, um seine Studien zu vertiefen; dabei beschäftigte er sich besonders mit Pico della Mirandola und Marsilio Ficino. Nach seiner Rückkehr nach England wurde er Professor der Theologie von St. Paul in Oxford, 1504 ernannte Heinrich VII. ihn zum Dechanten von St. Paul's in London. Colet hatte von seinem Vater, der zeitweise Bürgermeister von London war, ein großes Vermögen geerbt. Er nutzte dieses Vermögen, um 1510 mit der St.-Pauls-Schule in London eine humanistische Schule zu gründen, die über Generationen zu einem führenden Zentrum humanistischer Studien für Angehörige der Mittelschicht werden sollte.

Colet war ein glühender Verfechter des Gedankens "zurück zu den Quellen" und wollte die großen Werke der antiken Denker ebenso wie das Alte und Neue Testament im originalen Griechisch und Hebräisch lesen. Er lehnte die mittelalterliche Praxis der allegorischen Bibelinterpretation ab und setzte beharrlich dagegen, man müsse das Neue Testament, z.B. die Schriften des Hl. Paulus, als authentische Lebensbeschreibung einer realen Person lesen.

In Zusammenarbeit mit Colet erarbeiteten Erasmus und Wilhelm Lyly (1468-1523) einen Lehrplan für die neue Schule. Lyly hatte sowohl in Italien als auch in Rhodos studiert und wurde der erste Leiter der St.-Pauls-Schule. Zudem verfaßte er eine revolutionär neuartige lateinische Grammatik, die als "Lyly's Grammatik" oder "Pauls Formenlehre" bekannt wurde. Sie wurde von Colet und Erasmus überarbeitet. Ab 1513 erlebte das Buch zahlreiche Auflagen und diente drei Jahrhunderte lang als grammatikalisches Standardwerk. Neu daran war, daß es die Grammatikregeln nicht einfach nur auflistete, sondern in kleinen Versen formulierte, welche die Schüler auswendig lernten. Nach einer akademischen Kontroverse verfügte Heinrich VIII., daß diese Grammatik offiziell in den Schulen zu benutzen sei.

Dies waren also die Oxforder Reformer, Mores intellektueller Kreis, dessen große Leistung darin bestand, das Denken der italienischen Renaissance nach England zu bringen. Als Erasmus London 1499 zum ersten Mal besuchte, war er vollkommen überrascht über das kulturelle Niveau, das er dort vorfand, und pries diese Männer als neue Genies. In einem Brief vom 5. Dezember 1499 schreibt Erasmus: "Wenn ich meinen Freund Colet höre, meine ich Platon selbst zu vernehmen. Wer bewundert an Grocyn nicht jene absolute Beherrschung aller Wissensgebiete? Wo findet man ein sichereres Urteil als bei Linacre? Wo hätte die Natur je einen Geist gebildet, der liebenswürdiger, angenehmer und besser gelaunt wäre als Thomas Morus?"

Erasmus und More entwickelten eine außergewöhnlich enge intellektuelle und persönliche Beziehung. In einem Brief an Erasmus von 1529 schließt More mit dem Worten: "Leb wohl, liebster Erasmus, der Du mehr als die Hälfte meiner Seele bist", und Erasmus schrieb nach Mores Tod: "Mit seinem Tod fühle ich mich selbst ausgelöscht", und: "Mit Mores Tod scheine ich selbst gestorben zu sein; wir hatten gemeinsam nur eine Seele." Sie waren wahrlich Seelenverwandte. Ihre intellektuelle Zusammenarbeit war so eng, daß es kaum noch möglich ist, bei ihren bekanntesten Werken wie Erasmus' Lob der Torheit oder Mores Utopia einem der beiden jeweils die alleinige Autorenschaft zuzuschreiben.

Zu der Zeit, als Erasmus zum ersten Mal London besuchte, bis ungefähr 1503, führte Thomas More schwere innere Kämpfe über seine Berufung, und Erasmus' Einfluß war nachweislich entscheidend bei seiner Entscheidung. Während er als Anwalt arbeitete und Vorlesungen über Augustinus abhielt, besuchte More häufig das Charterhouse (Kartäuserkloster) in London. Nach dem Bericht seines Schwiegersohns lebte er sogar vier Jahre im Gästehaus der Kartäuser in London, "gab sich selbst der Andacht und dem Gebet hin", teilte das Leben der Mönche mit seinen strengen Regeln. Das härene Gewand trug er bis zu seinem Tode. Und doch entschied sich Thomas, nicht ins Kloster einzutreten, sondern seinen tiefen Glauben als Laie auszuüben. Die Forderung des Vaters, die Familientradition als Rechtsgelehrter fortzuführen, mag vielleicht eine Rolle gespielt haben, aber es war weitaus wahrscheinlicher der Einfluß des Erasmus -- vor allen Dingen dessen Enchiridion oder Handbuch des christlichen Streiters --, der Mores Entscheidung beeinflußte.

1505 heiratete Thomas More Jane Colt. Sie war die älteste von drei Schwestern. Wie er sie erwählte, ist typisch für seinen Charakter. Sein Schwiegersohn berichtet, More habe sich eigentlich mehr zu der zweitältesten Schwester hingezogen gefühlt, die schöner und sympathischer war, bekam dann aber Mitleid mit der ältesten, für die es eine Schande gewesen wäre, nicht als erste zu heiraten, gewann sie lieb und heiratete sie.

Aus der Ehe gingen drei Töchter und ein Sohn hervor, die More alle selbst unterrichtete. Zuerst unterwies er seine Frau in Literatur und Musik. Nach ihrem Tod heiratete er wieder, um seinen Kindern wieder eine Mutter zu geben. Seine zweite Frau, Alice Middleton, war eine Witwe mit einer Tochter. Wie Erasmus berichtet, schickte sich More gleich an, auch seine zweite Frau zu unterrichten: "Kaum ein Ehemann erlangt von seinem Weibe durch Befehl und Strenge so viel Willfährigkeit wie er durch Komplimente und Scherze. Was sollte er denn auch nicht erreichen, nachdem er es fertiggebracht hat, daß sein Weib, das sich schon dem Greisenalter zuneigt, dazu keineswegs von weicher Gemütsart, schließlich noch dazu sehr bedacht auf Besitz ist, Zither, Laute, Monochord und Flöte spielen lernte und ihrem Mann in diesen Dingen das täglich geforderte Übungsprogramm leistet?"

Im Laufe der Zeit gesellten sich zahlreiche junge Leute zu seinen Kindern für den Unterricht im Hause More -- nach Erasmus "eine Schule des Wissens und der Ausübung des christlichen Glaubens". Erasmus verglich es mit der Platonischen Akademie: "Es gibt dort niemanden, der nicht alle Zweige der ,artes liberales' studiert. Sie bemühen sich dabei vor allem um Tugend und Frömmigkeit. Es gibt keinen Streit, man hört keine unbeherrschten Worte. Niemand ist müßig. Jeder erfüllt seine Pflicht mit Eifer, und man vermißt dabei nicht einmal eine maßvolle Fröhlichkeit." Zu den Lehrern zählten neben More Gelehrte wie der deutsche Astronom Nicholas Kratzer, der Oxforder Griechisch-Professor John Clement und viele andere, höchstwahrscheinlich auch Erasmus.

Wieviel Wert More der Erziehung seiner Kinder beimaß, ist seinen Briefen an sie zu entnehmen. So spornt er seine Tochter Margaret in einem Brief, der wahrscheinlich 1521, als sie 16 Jahre alt war, geschrieben wurde, dazu an, so viele Fortschritte machen wie ein Mann, wenn nicht noch größere. Sie wurde eine der gebildetsten Frauen Englands, wenn nicht Europas.

Es heißt dort: "Da unser vielgeliebter Nicholas Kratzer, der höchst gelehrte Astronom, Euch wieder das Planetensystem deutet, danke ich ihm und gratuliere Euch zu diesem Glück. Denn innerhalb eines einzigen Monats wirst Du mit geringer Mühe die großen Wunder des ewigen Schöpfers von Grund auf kennenlernen, die so viele berühmte und beinahe übermenschlich begabte Forscher mit soviel Schweiß und Mühe, nein vielmehr mit Frösteln in durchwachten Nächten unter freiem Himmel im Laufe der Zeiten entdeckt haben.

Gewiß habe ich dich, geliebte Margaret, noch nie müßig gefunden. Im Gegenteil, Dein emsiges Streben zeigt, daß Du nicht nur in die üblichen, sondern in fast alle Zweige der Wissenschaft gründlich eingedrungen bist. Darum fasse ich Deine Worte als Beispiel einer allzu großen Bescheidenheit auf, weil Du Dich lieber fälschlich der Trägheit bezichtigst als der Wahrheit gemäß des Fleißes rühmst. Du meinst vielleicht, Du willst Dich hinfort so eifrig den Studien widmen, daß Dein früherer Fleiß, wie groß auch immer, mit dem künftigen verglichen wie Faulheit wirkt! Wenn Du es so meinst, wie ich doch annehme, könnte mir nichts erfreulicher sein, und Dir, meiner innigst geliebten Tochter, nichts beglückender. Obwohl ich ernstlich wünsche, daß Du fast Dein ganzes übriges Leben dem Medizinstudium und der Gottesgelehrtheit widmest, damit Du für das ganze Leben gerüstet seiest -- ohnedies gehören eine gesunde Seele und ein gesunder Körper zusammen -- und da Du bereits die Grundlagen zu diesen Studien gelegt hast und fähig bist, das Gebäude darüber zu errichten, so möchte ich trotzdem meinen, Du sollst noch einige Deiner jungen Jahre den humanistischen Wissenschaften und den sogenannten freien Künsten widmen; einmal, weil die Jugend diese Schwierigkeiten am leichtesten bewältigt, und zum anderen, weil es unsicher ist, ob Du je in Zukunft von solch beflissenen, liebenswerten und gebildeten Lehrern unterrichtet wirst. Es versteht sich von selbst, daß durch solche Studien die Urteilsfähigkeit gebildet und gefestigt wird." Und er schließt in einer charakteristischen humorvollen Bemerkung: "Ich pflege Dir zu raten, in allem Deinem Mann zu folgen, jetzt aber gebe ich Dir im Gegenteil die Freiheit, daß Du Dich bestrebst, ihn in der Kenntnis der Astronomie zu übertreffen."

Die englischen Humanisten sahen den Hauptzweck der Bildung darin, Führungspersönlichkeiten auszubilden, die nach den Prinzipien von Platons Staat oder Augustinus' Gottesstaat eine moralische Gesellschaft aufbauen konnten.

Mit dem Ende der Rosenkriege bestieg 1485 Heinrich VII. den Thron und machte sich daran, auf englischem Boden einen modernen Nationalstaat aufzubauen. Der Krieg um die Thronfolge zwischen den Seitenlinien Lancaster und York des Hauses Plantagenet war 1455 ausgebrochen, und Heinrich entschied ihn am 22. August 1485 mit seinem Sieg über Richard III. auf dem Schlachtfeld bei Bosworth für sich. Seinen Anspruch, die Kluft zwischen den Yorks und den Lancasters überwunden zu haben, bekräftigte er durch seine Heirat mit Elisabeth von York. Aber mehr noch als diese Heirat trugen seine wirtschaftlichen, sozialen und politischen Maßnahmen dazu bei, die Nation zu einen und aufzubauen.

Um eine moderne Nation aufzubauen, mußte Heinrich zunächst die Macht des heteronomen feudalen Adels brechen; er mußte den gesellschaftlichen und politischen Rückhalt der Krone von der degenerierten Adelskaste auf die aufstrebende Mittelschicht in Handel und Manufakturwesen verlagern. Dies hieß, die Wirtschafts- und Handelspolitik grundlegend zu ändern und gleichzeitig neue politische Institutionen zu schaffen, die den anstehenden Aufgaben gewachsen waren. Heinrichs Schlüssel zum Erfolg war, daß er die organisatorische und inhaltliche Kontrolle über die neuen Institutionen persönlich übernahm und nicht mehr aus der Hand gab.

Heinrich VII. berief das Parlament wieder ein und forderte vom Oberhaus einen Eid, der es an seine Politik band. Den Kronrat (King's Council), der vorher nur vage Zuständigkeiten hatte, strukturierte er vollständig um und verwandelte ihn in ein einflußreiches Gremium, dem zwei Oberrichter (Chief Justices) beigesetzt waren und das große Autorität in Rechtsfragen und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung hatte.

Separat vom Kronrat richtete Heinrich 1487 mit dem Star Chamber Act (nicht mit dem späteren "Star Chamber" zu verwechseln) einen Gerichtshof ein, der seinen Namen "Sternkammer" von seinem Tagungsort, einem mit Sternen verzierten Raum im Westminsterpalast, erhielt. Dieses Gericht bestand aus zwei der drei obersten Staatsbeamten (Kanzler, Schatzmeister und Geheimsiegelbewahrer), die bei den anfallenden Rechtsfragen zusätzlich einen Bischof, einen Lord aus der Beraterschaft des Königs sowie die beiden Oberrichter zu Rate zogen.

Die Mitglieder des Kronrats, der zum ersten Mal 1484 gebildet wurde, wählte der König selbst aus, und seine Kriterien waren ausschließlich Loyalität und Fähigkeiten, nicht Besitz oder Geburt. Die Gesamtzahl der Räte betrug 227, worunter Mitglieder des Hochadels, Hofleute, Juristen, Beamte und Kirchenleute vertreten waren. Man weiß zwar von ungefähr 180 Personen, daß sie an einer oder mehreren Ratssitzungen teilgenommen haben, jedoch gab es eine eigentliche Kerngruppe von etwa 20 besonders vertrauenswürdigen und zuverlässigen Personen, die regelmäßig zusammentrafen.

An diese Männer wandte sich Heinrich VII., wenn er Rat brauchte, und ihnen vertraute er Staatsgeheimnisse an. Wie stabil dieses Vertrauensverhältnis war, zeigt sich daran, daß unter Heinrichs Regierung die drei führenden Staatsbeamten -- Kanzler (Chancellor), Schatzmeister (Treasurer) und Geheimsiegelbewahrer (Keeper of the Privy Seal) -- kaum wechselten. Im Laufe seiner jahrzehntelangen Regierungszeit ernannte er insgesamt nur zwei Kanzler, zwei Schatzmeister und zwei Geheimsiegelbewahrer. Dies zeigt, daß Heinrich seine hohen Staatsbeamten mit großer Sorgfalt auswählte und das Vertrauen in sie bewahrte.

Die wichtigste Person in Heinrichs Regierung war John Morton, der von 1486 bis zu seinem Tod 1500 Kanzler war. Er wurde im gleichen Jahr auch Erzbischof von Canterbury und 1493 Kardinal. Wie viele aus Heinrichs engeren Umkreis war Morton an mehreren Versuchen beteiligt gewesen, den Tyrannen Richard III. zu stürzen, und hatte bis zur entscheidenden Schlacht von Bosworth viele Jahre im Exil verbracht. Es war Morton, der den jungen Thomas More ausbildete. More schilderte Morton später als "einen Mann von großem natürlichen Verstand, sehr gebildet und ehrbar im Verhalten, dem es nie an weisen Mitteln mangelte, Ansehen zu gewinnen". Und unter Bezug auf dessen politischen Auseinandersetzungen schrieb er, Morton habe "durch große Erfahrung, die die wahre Mutter und Herrin der Weisheit ist, eine tiefe Einsicht in das politische weltliche Treiben erlangt".

Von wenigen Ausnahmen abgesehen handelte es sich bei Heinrichs engsten Ratgebern um Männer, die mit ihm im Exil gewesen waren, und die meisten waren an der "Buckingham-Verschwörung" gegen Richard III. beteiligt gewesen. Es waren sehr gebildete Männer, von denen viele in Oxford, dem Zentrum des "Neuen Lernens", studiert hatten. Einer der beiden Geheimsiegelbewahrer, Peter Courtenay, hatte in Padua und in Oxford in kanonischem Recht promoviert. Von den fünf Männern des inneren Zirkels waren zwei, Reginald Bray und Thomas Lovell, Finanzexperten; Richard Guildford galt als Fachmann für Militärtechnik und Schiffbau, er baute Befestigungsanlagen, Geschütze und Schiffe; und Giles Dauberney war ein führender Militärkommandant.

Das Ende der feudalen Anarchie

Bei der Finanzierung seiner Regierung mußte der König sich in erster Linie auf die eigenen Einnahmen aus seinen Kronlanden verlassen. Hinzu kamen Mittel, die ihm das Parlament -- vor allem das von der Mittelklasse gestellte Unterhaus -- zuwies, doch waren solche Zuweisungen in der Regel auf Notfälle wie die Finanzierung eines Krieges im Ausland begrenzt. Allerdings gab es auch parlamentarische Bewilligungen aus Einkünften durch Großgrundbesitz. Diese waren ursprünglich vom Schatzamt verwaltet worden, wurden jetzt aber der direkten Kontrolle des Königs und seiner Berater unterstellt. Heinrich modernisierte die Bewirtschaftung der Kronlande und erweiterte sie durch Neuverpachtungen sowie Enteignungen von Personen, die wegen Landesverrats oder Mißbrauchs feudaler Vorrechte verurteilt wurden.

Der Act of Resumption von 1487 hob Verpachtungen königlicher Besitzungen auf und ermöglichte neue, profitablere Pachtverträge. Eine im folgenden Jahr gebildete Kommission ernannte Beamte, welche die Umsetzung des Gesetzes überwachten. Die Kommission ernannte auch neue Revisoren und Steuereintreiber. Die Pächter wurden angewiesen, ihre Erlöse direkt an den König zu zahlen, und dieser überwachte persönlich die Berichte der Verwalter, Rechnungsrevisoren und Steuereintreiber. Somit hatte Heinrich die vollständige Kontrolle über seine Einkünfte.

Verantwortlich für die effiziente Verwaltung der steigenden Einkünfte waren die Schatzmeister, die ihre Kammer in ein bedeutendes Finanzinstitut verwandelten. Später wurde die Verwaltung des "Jewel House", wo die Kronjuwelen und der wachsende Barschatz des Königs lagerten, vom Schatzamt abgetrennt und einem besonderen Aufseher unterstellt.

Andere Einnahmen, wie Gebühren aus Vormundschaften und Eheschließungen, überwachte der König ebenfalls selbst. Heinrichs straffe Kontrolle über die Finanzen -- Einkünfte und Ausgaben -- zeigte sich daran, daß er die Rechnungsprüfungsberichte der Kammer wöchentlich, monatlich oder vierteljährlich eigenhändig überprüfte.

Heinrich nutzte das finanzielle Instrument der Schuldverschreibungen sowohl zur Steigerung der Staatseinkünfte als auch zur Kontrolle des Adels. Diese Anleihen, ob in Form von Obligationen (mit festen Konditionen) oder Schuldscheinen (bezogen auf eine frühere Schuld), wurden als Gunst des Herrschers vom König selbst oder von dessen Agenten ausgestellt. So konnten z.B. wohlhabende Personen, die gegen das Gesetz verstoßen hatten, eine Schuldverschreibung vereinbaren, um die königliche Gunst zurückzugewinnen. Anleihen wurden als Kredite an die Kaufleute ausgestellt, für Ein- und Ausfuhrlizenzen, die Anmietung von Schiffen usw.

Die Maßnahme bewährte sich. Von 62 Familien des Hochadels waren 46 Heinrich VII. finanziell verpflichtet, hauptsächlich durch Schuldverschreibungen. "Es entstand eine Situation, in der die Mehrheit des Adels in rechtlicher wie finanzieller Hinsicht von der Macht und Gnade des Königs abhängig war, praktisch drohten den Menschen schwere Strafen, wenn sie nicht die Ehrlichkeit und Loyalität ihrer Gefährten garantierten."

Parallel zur Neuordnung der Staatsfinanzen machte sich Heinrich auch an die Umgestaltung von Verwaltung und Rechtswesen auf der lokalen Ebene. Viele Barone und andere Adelige hatten eigene Armeen aufgestellt und bedienten sich lokaler Polizeibehörden, die ihren eigenen Interessen dienten und die sie in den "Rosenkriegen" an den jeweils Meistbietenden vermieteten. Dieser Tendenz trat Heinrich VII. 1504 mit der Verordnung "Statute against Livery and Maintenance", die anstelle der vorherigen feudalen Anarchie wieder Recht und Ordnung einführte, entgegen.

Es wurden königliche Friedensrichter ernannt, die die Sheriffs der feudalen Lords ersetzten. Damit unterstellte Heinrich praktisch das gesamte Rechtswesen wieder der unmittelbaren Kontrolle des Königs. Das Parlament verabschiedete Gesetze, die die Arbeit der Friedensrichter regelten, und unter seiner Regierung wurde die erste Abhandlung über das Thema Book of Iustyces herausgegeben. Heinrich ging aber auch gegen Fahrlässigkeiten der Friedensrichter vor. So erklärt er in einem Statut, daß die Gesetze erfüllt werden müßten, um das Gemeinwohl der Untertanen zu sichern. Er schreibt: "Nichts ist erfreulicher als die Gewißheit, daß meine Untertanen friedlich und in wachsendem Wohlstand und Glück leben." Nicht nur die Richter, auch die degradierten Sheriffs sowie Gerichtsgeschworene waren durch genaue Rechtsvorschriften gebunden, um Korruption zu verhindern.

In juristischen Angelegenheiten, die mit finanziellen Dingen und Schuldeintreibung zu tun hatten, wandte sich Heinrich an eine Gruppe seiner Ratgeber, die in Gesetzesdingen besonders qualifiziert waren, den "Council Learned" (Rat der Gelehrten). Andere Rechtsangelegenheiten, die zivile Fälle betrafen, entschied der Kronrat.

Manufaktur und Handel

Handel und Wirtschaft ordnete Heinrich VII. mit der gleichen Unerbittlichkeit und nach dem gleichen uneingeschränkten Prinzip des Gemeinwohls.

Englands Hauptexportartikel jener Zeit waren Wolle und Tuche, die besonders in den Niederlanden und in Italien begehrt waren. Mit dem Book of Rates von 1507 setzte Heinrich den Wert der Handelswaren, den vorher die Kaufleute bestimmt hatten, fest.

Die Steuern betrugen im allgemeinen ein Zehntel in den Städten und ein Fünfzehntel im ländlichen Gebiet. Später änderte Heinrich das Steuersystem und berechnete den Steuersatz nach anderen Kriterien. Er besteuerte die Wollexporte hoch, um die inländische Textilindustrie zu fördern. In der Folge ging unter seiner Regierung die Ausfuhr von Rohwolle um 30 Prozent zurück, während die von Tuchen um 60 Prozent anstieg.

Um die Exporte zu fördern und zu schützen, ging Heinrich daran, die englische Handelsflotte auszuweiten und gleichzeitig mit finanziellen und rechtlichen Mitteln die ausländische Konkurrenz auszuschalten. Die "Navigationsakte" von 1486 legte fest, daß bestimmte Waren nur an Bord von englischen, irischen oder walisischen Schiffen und von deren Seeleuten nach England eingeführt werden durften. Dieses Gesetz wandte Heinrich u.a. auf die englische Wolle an, um die venezianischen Händler, die bis dahin praktisch ein Monopol auf den Handel mit englischen Waren im Mittelmeerraum gehabt hatten, zu umgehen. 1490 unterzeichnete Heinrich einen Vertrag mit Florenz, in dem Pisa als Hafen für englische Wolle festgelegt und die Ausfuhr englischer Wolle nach Venedig nur auf englischen Schiffen genehmigt wurde.

Zu Beginn von Heinrichs Regierung waren die englischen Kaufleute in zwei Gruppen organisiert: den "Merchants of the Staple at Calais" (Kaufleute, die an Stapelplätzen tätig waren) und den "Merchant Adventurers", die auf eigenes Risiko arbeiteten. Die erste Gruppe ähnelte mehr den alten Gilden; es waren Kaufleute, die sich zusammengeschlossen und den englischen Wollhandel monopolisiert hatten. Sie unterstanden der Kontrolle des Königs, hauptsächlich um die Zahlung der Ausfuhrsteuern an die Krone sicherzustellen. Heinrich setzte auch fest, welche Steuern die Merchant Adventurers von anderen Kaufleuten, die nicht ihrer Vereinigung angehörten, verlangen durften. Die Merchant Adventurers kontrollierten den Tuchexport und entwickelten sich zu einem größeren Machtfaktor.

Heinrich förderte den Schiffbau durch finanzielle Anreize. Er finanzierte auch den Bau des Trockendocks in Portsmouth, welches das erste seine Art war.

Die herausragende Stellung des Wollhandels schuf auch Probleme. Habgierige Adlige und Landjunker dehnten das Weideland für ihre Schafe aus, indem sie rücksichtslos öffentliche Flächen, auf die die Bauern für ihre landwirtschaftliche Erzeugung angewiesen waren, einzäunten und nutzten. Die Folgen für die Landwirtschaft und die Bauern waren verheerend (More schilderte diese Zustände später kritisch in seiner Schrift Utopia). Ab 1489 ging Heinrich gegen diese Landräuber vor. Das Parlament verabschiedete ein Gesetz, nach dem Höfe einer bestimmten Größe, die zur landwirtschaftlichen Nutzung verpachtet waren, zu diesem Zweck erhalten bleiben mußten. Dies wurde damit begründet, Einfriedung von Gemeindeland führe zu einem Zerfall von Dörfern, Gemeinden und Landwirtschaft sowie erhöhter Arbeitslosigkeit und stelle eine Gefahr für die Sicherheit des Landes dar.

Um die Währung stabil zu halten, erließ Heinrich strenge Vorschriften und Kontrollen. Ausländische Kaufleute mußten das Geld, das sie durch den Verkauf ihrer Waren eingenommen hatten, in England ausgeben. Goldbarren, Kupfer oder Juwelen durften keinen ausländischen Händlern ausgehändigt werden, und ihre Ausfuhr war nur mit der ausdrücklichen Genehmigung des Königs gestattet. Illegale Kreditgeschäfte aus Profitgier und Wucher wurden verboten, Währungsumtausch nur mit Genehmigung des Königs erlaubt. Standardmaße und -gewichte wurden eingeführt. Gleichzeitig ordnete Heinrich die Ausgabe neuer Gold- und Silbermünzen mit neuen Nennwerten und seinem Portrait an.

Heinrichs Außenpolitik war von der Idee bestimmt, daß Ruhe und Frieden im In- und Ausland nur erreicht werden konnten, wenn man durch beiderseitig vorteilhafte Handelsabkommen den Lebensstandard stetig verbesserte. Imperiale Rivalitäten oder eine Politik des "Mächtegleichgewichts" waren ihm fremd. Dagegen war er begeistert von den Entdeckungen der Seefahrer, und er finanzierte die ersten englischen Forschungsreisen unter John und Sebastian Cabot.

1496 erhielt John Cabot den Auftrag, mit fünf Schiffen "das östliche, westliche und nördliche Meer" zu erforschen, "um was auch immer für Inseln, Länder, Regionen oder Provinzen von Heiden und Ungläubigen zu finden..., die bisher allen Christen unbekannt waren". 1498 wurde eine zweite Expedition organisiert, um die Länder auf dem amerikanischen Kontinent, den Cabot erreicht hatte, weiter zu erforschen, doch Cabot kehrte nicht mehr zurück. 1508-09 versuchte dann Cabots Sohn Sebastian, einen Seeweg über die Nordwestpassage nach Asien zu finden. 1506 wurde eine Gesellschaft unter dem Namen "Adventurers to the new Found Lands" gegründet, die die Forschungen fortführte.

Als Heinrich VII. am 21. April 1509 starb, hatte er sich den Beinamen eines "zweiten Salomo" verdient. Als gläubiger Christ hatte er religiöse Orden unterstützt und soziale Einrichtungen, darunter ein Krankenhaus für die Armen, bauen lassen. Er hinterließ den reichsten Besitz in Europa, einen souveränen Nationalstaat mit einer blühenden Nationalökonomie und einen 18jährigen Sohn als Thronerben.

Richard III.

Nachdem sich Thomas More entschlossen hatte, ins öffentliche Leben zu treten, gelangte er schnell in verantwortungsvolle Funktionen. Unter Heinrich VII. wurde er 1504 Mitglied des Parlaments. 1510, als Heinrich VIII. König war, saß er im Parlament und wurde zum "Under Sheriff" ernannt. 1517 wurde er Mitglied des Kronrats und unternahm verschiedene Missionen im Ausland. 1518 gab er sein Amt als Sheriff auf. 1520 begleitete er den König auf einer Auslandsreise. 1521 wurde er geadelt und zum Unterschatzkanzler ernannt. 1523 war er Sprecher des Unterhauses, im folgenden Jahr wurde er zum Obersten Verwalter der Universität Oxford ernannt. 1526 wurde er Richter der "Sternkammer" und leitete wichtige diplomatische Verhandlungen, darunter die Friedensverhandlungen mit Frankreich. 1529 wurde More nach Kardinal Wolseys Amtsenthebung an dessen Stelle zum Lordkanzler ernannt.

Aber mit dieser Beförderung trat auch der Konflikt mit der Krone offen zutage.

Mores politische Ansichten wurzelten in seinem Studium von Platon, Augustinus und den Denkern der italienischen Renaissance und waren geprägt von seiner Überzeugung, daß der König das Recht und die Pflicht habe, die Gesellschaft in moralischer Übereinstimmung mit der göttlichen Ordnung -- dem Naturrecht -- zu ordnen, so daß die Regierung dem Gemeinwohl diente. Daher war der persönliche Charakter des Königs von entscheidender Bedeutung. In seinen frühen Schriften zur Staatskunst untersucht More, wie der gute oder schlechte Charakter eines Königs über Gedeih oder Ruin des Königreiches entscheiden konnte. Sein frühestes Werk in diesem Zusammenhang war eine Untersuchung über Richard III., der für Morus alles verkörperte, was ein König nicht sein sollte.

Richard III. war ein durch und durch böser Mensch, ein blutiger Tyrann, dessen Charakter dem Königreich unzählige Katastrophen bescherte. Selbst seine äußere Erscheinung spiegelte diesen häßlichen Charakter wider, wie Morus schreibt: "Der dritte Sohn Richard war ihnen [seinen beiden Brüdern] an Verstand und Mut gleich; was den Körper und seine Tapferkeit anging, stand er weit unter beiden, klein von Statur, mit verbildeten Gliedern, bucklig, seine linke Schulter viel höher als seine rechte, ein häßliches Gesicht, und das, was man bei Edlen kriegerisch, bei anderen Männern anders nennt. Er war böswillig, jähzornig, mißgünstig, und das schon von vor der Geburt an. Es wird als wahr berichtet, daß die Herzogin, seine Mutter, so schmerzhafte Wehen erlitt, daß sie nicht ungeschnitten von ihm entbunden werden konnte, und daß er mit den Füßen voran zur Welt kam; auch war er (so sagt das Gerücht) nicht unbezahnt. Entweder weichen jene, die ihn hassen, in ihren Berichten von der Wahrheit ab, oder die Natur änderte bei demjenigen, der in seinem Leben so viel Unnatürliches beging, von Anfang an ihren natürlichen Verlauf."

Richard III. zog Krieg dem Frieden vor und bediente sich brutaler Methoden, um seine Machtgier zu befriedigen:

"Er war kein schlechter Feldherr im Krieg, zu dem ihn seine Anlagen mehr befähigten als zum Frieden. Verschiedene Siege hatte er, und manchmal Niederlagen, doch nicht aus persönlichem Versagen, weder aus Feigheit noch aus Unvermögen. Man nannte ihn freigebig, und während er sich, etwas über seine Verhältnisse, mit großen Geschenken unbeständige Freundschaft erwarb, war er gezwungen, andernorts zu plündern und zu zerstören, was ihm beständigen Haß eintrug. Er war verschlossen und verschlagen, ein arger Heuchler, von gemeiner Gesinnung, arroganten Herzens; äußerlich freundlich, wo er innerlich haßte, zögerte er nicht, zu küssen, wen er töten wollte -- boshaft und grausam, nicht immer aus böser Absicht heraus, oft auch aus Ehrgeiz und zur Sicherung oder Vergrößerung seines Besitzes. Freund und Feind behandelte er auf die gleiche Weise: Wo er seinen Vorteil sah, verschonte er keinen Mann des Todes, dessen Leben seinen Absichten im Wege stand. Wie immer wieder gesagt wird, tötete er eigenhändig König Heinrich VI., als dieser Gefangener im Tower war, und das ohne Auftrag und Wissen des Königs, der, wenn er dergleichen beabsichtigt hätte, dies blutige Amt unzweifelhaft einem anderen überlassen hätte als seinem eigenen Bruder. Einige weise Männer glauben auch, daß er lange schon zu Edwards Lebzeiten vorhatte, König zu werden, und zwar in dem Fall, daß der König, sein Bruder, sterben sollte, während seine Kinder noch jung waren, was dann auch tatsächlich eintraf."

Bei all seiner Umbarmherzigkeit wurde Richard III. von schlimmen Schuldvorwürfen geplagt, wie More anschaulich beschreibt:

"Ich habe glaubhaften Bericht von Leuten, die Zugang zu seinen privaten Gemächern hatten, daß er, nachdem diese abscheuliche Tat ausgeführt war, keine Seelenruhe mehr fand und sich niemals wieder sicher fühlte. Wo er auch hinging, huschten seine Augen angstvoll hin und her, sein Leib war heimlich gepanzert, seine Hand immer am Dolch; Gesichtsausdruck und Benehmen waren die eines Mannes, der jederzeit bereit ist, zurückzuschlagen. Nachts fand er kaum Ruhe; lange lag er wach und grübelte aus Sorge und Wachsamkeit, mehr im Halbschlaf als im Schlaf; von Angstträumen geplagt, schreckte er manchmal plötzlich hoch, sprang aus dem Bett und lief in der Kammer umher. So wurde sein ruheloses Herz ständig von dem bohrenden Eindruck und der quälenden Erinnerung an seine schreckliche Tat erschüttert und bewegt."

Mores psychologische Studie zu Richard III. lieferte Shakespeare das geschichtliche und psychologische Material für sein gleichnamiges Drama. Shakespeare lehnte sich eng an Mores Darstellung an und entwickelte aus dessen Idee vom Charakter Richards als treibender Kraft die dramatische Kraft für die Handlung des Schauspiels.

Im ersten Teil seines bekanntesten Werkes, der Utopia, beschreibt Morus, wie eine Gesellschaft vom Bösen befallen wird, wenn es an einer sozialen, am Gemeinwohl orientierten Politik fehlt. Der volle Titel dieser Schrift, die 1516 erschien, lautet Abhandlung des trefflichen Herrn Raphael Hythlodeus über die beste Staatsverfassung, herausgegeben von dem berühmten Herrn Thomas Morus, Bürger und Sheriff der weltbekannten britischen Hauptstadt London.

Raphael, der Titelheld, ist gerade von einer Weltreise mit Amerigo Vespucci zurückgekehrt und berichtet Thomas Morus und Peter Gilles während eines Besuches in Brügge von seinen Reiseerlebnissen und seinem Zusammentreffen mit verschiedenen Völkern, besonders von einem Land namens Utopia. Unter anderem brandmarkt Raphael dabei die Praxis der Einfriedung von Gemeindeland -- eine Praxis, die Heinrich VII., wie oben beschrieben, eingedämmt hatte.

Er behandelt das Thema während eines Gesprächs über die Todesstrafe, die damals in England ziemlich verbreitet war. Raphael berichtet von einer Unterhaltung, die er im Haus von John Morton gehabt habe (wo Morus wirklich gelebt hatte und ausgebildet worden war). Man kam auf die Todesstrafe zu sprechen, welche Raphael energisch ablehnte. Er argumentierte, die Todesstrafe für Diebe gehe über das gerechte Maß hinaus, denn "Diebstahl zu sühnen ist sie zu scharf, ihn einzudämmen trotzdem unzureichend". Die Armut verleite viele Menschen zum Stehlen, und diese sei wiederum die Folge einer falschen Politik.

Er sagt: "Mir scheint, in diesen Dingen folgt nicht bloß ihr Engländer, sondern die halbe Welt dem Vorbild der schlechten Lehrer, die ihre Schüler lieber prügeln als belehren. So setzt man fürchterlich harte Strafen für Diebe fest, während man viel lieber dafür sorgen sollte, daß sie ihr Auskommen haben, damit nicht einer in den harten Zwang gerät, erst stehlen und danach sterben zu müssen."

Raphael fährt fort, die Fehler in der Gesellschaft aufzuzeigen: "Zunächst einmal gibt es da die große Anzahl von Edelleuten, die selber müßig wie die Drohnen von anderer Leute Arbeit leben, nämlich von den Pächtern auf ihren Gütern, die sie bis aufs Blut schinden, um höherer Renten willen."

Unter allen anderen Faktoren, die zu einem Verbrechen führen, nennt Raphael einen, der in besonderem Maße in England wirksam sei: "Eure Schafe! Eigentlich gelten sie als recht zahm und genügsam; jetzt aber haben sie, wie man hört, auf einmal angefangen, so gefräßig und wild zu werden, daß sie sogar Menschen fressen, Länder, Häuser, Städte verwüsten und entvölkern. Überall da nämlich, wo in eurem Reiche die besonders feine und darum teure Wolle gezüchtet wird, da lassen sich die Edelleute und Standespersonen und manchmal sogar Äbte, heilige Männer, nicht mehr genügen an den Erträgnissen und Renten, die ihren Vorgängern herkömmlich aus ihren Besitzungen zuwuchsen; nicht genug damit, daß sie faul und üppig dahinleben, der Allgemeinheit nichts nützen, eher schaden, so nehmen sie auch noch das schöne Ackerland weg, zäunen alles als Weiden ein, reißen die Häuser nieder, zerstören die Dörfer, lassen nur die Kirche als Schafstall stehen... Damit also ein einziger Prasser, unersättlich und wie ein wahrer Fluch seines Landes, ein paar tausend Morgen zusammenhängendes Ackerland mit einem einzigen Zaun umgeben kann, werden Pächter von Haus und Hof vertrieben."

Da man weniger Leute brauche, eine Herde zu hüten, als Ackerland zu bestellen, führe dies zu Arbeitslosigkeit. Da der Wollmarkt auf eine kleine Anzahl reicher Leute begrenzt sei, übten diese eine monopolartige Kontrolle aus und könnten die Preise beliebig erhöhen. Der hohe Preis der Lebensmittel führe zu weiterem Elend.

Raphaels Lösungsvorschlag: "Kämpfet an gegen diese lebensgefährlichen Seuchen! Verordnet, daß die Gehöfte und Dörfer von denen wieder aufgebaut werden, die sie zerstört haben, oder aber laßt sie den Leuten einräumen, die zum Wiederaufbau bereit sind! Setzt Schranken gegen die Aufkäufe der reichen Besitzer und gegen die Freiheit gleichsam ihres Monopols! Sorgt, daß nicht so viele vom Müßiggang leben! Ruft den Ackerbau wieder ins Leben, erneuert die Wollspinnerei; das gäbe ein recht ehrsames Geschäft, in dem sich mit Nutzen jener Schwarm von Tagedieben betätigen könnte, die bisher die Not zu Dieben gemacht hat..." -- Heinrich VII. erfüllte die meisten dieser Forderungen.


Zurück zur Kultur-Hauptseite: