September 2001, Teil 2: |
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Von Muriel Mirak-Weißbach, Teil 2
Der tugendhafte Führer, wie er im zweiten Teil der Utopia vorgestellt wird, ist bestrebt, die Gesellschaft nach Vernunftprinzipien zu organisieren, um das Gemeinwohl zu fördern. König Utopos eroberte das Land, gab ihm seinen Namen und brachte "die rauhen und bäuerlichen Menschen zu einer solchen Vervollkommnung der Kultur und Menschlichkeit, daß sie jetzt allen anderen Sterblichen gegenüber überlegen sind". Utopos nahm als erstes ein großes Infrastrukturprojekt in Angriff. Er ließ durch eine Landenge, die das Gebiet mit dem Festland verband, einen Kanal graben. Zunächst machten sich die Einwohner über diese Idee lustig, aber schließlich wurde das Vorhaben gemeinsam von den Soldaten des Königs und den Einwohnern verwirklicht.
Utopia besteht aus 54 prächtigen Städten sowie ländlichen Gebieten mit einer modernen Landwirtschaft. Jeder Einwohner erlernt im Rahmen seiner Ausbildung auch den Landbau, obwohl alle wichtigen Gewerbe ausgeübt werden. Der Arbeitstag hat sechs Stunden, so daß der Bürger Zeit hat, sich durch öffentliche Vorlesungen weiterzubilden. Die Wirtschaft ist so rational organisiert, daß für die Grundversorgung Reserven aufgebaut wurden und die Arbeitskraft nötigenfalls auch für Reparaturen an der Infrastruktur eingesetzt werden kann. "Sehr oft auch, wenn kein Bedarf an derartigen Arbeiten vorliegt, wird von Staats wegen eine Verkürzung der Arbeitszeit bekanntgegeben. Denn die Behörden plagen die Bürger nicht gegen ihren Willen mit überflüssiger Arbeit, weil die Verfassung dieses Staates vor allem das eine Ziel vor Augen hat: Soweit es die öffentlichen Belange zulassen, allen Bürgern möglichst viel Freizeit von der körperlichen Arbeit für die Freiheit und die Pflege des Geistes zu verschaffen. Darin liegt nämlich ihrer Auffassung nach das Glück des Lebens."
Die Utopier haben sich die Form einer repräsentativen Regierung gewählt. Keimzelle des Staates und seiner sozialen Institutionen ist die Kleinfamilie. Die Bevölkerung lebt weitgehend in städtischen Zentren, die mit der notwendigen Infrastruktur ausgestattet sind: Schulen, Krankenhäuser, Einkaufszonen usw. Das Bildungswesen legt Wert auf eine universelle und freie Bildung und Weiterbildung. Die wissenschaftliche Kultur ist hoch entwickelt, und die Utopier sind große Experten in der Astronomie, wozu sie verschiedenste Instrumente für das Messen der Bewegungen und Positionen der Himmelskörper erfunden haben.
Ihre grundlegende philosophische Weltanschauung ist religiös, obwohl sie keine Christen sind. Ihre Weltanschauung kommt in folgenden Grundprinzipien zum Ausdruck: "Die Seele ist unsterblich und durch die Güte Gottes zur Glückseligkeit geboren. Nach dem Leben sind Belohnungen für Tugendhaftigkeit und gute Taten und Bestrafungen für Verfehlungen festgesetzt. Obwohl diese Prinzipien der Religion zugeordnet sind", erklärt Raphael, "gehen sie davon aus, daß die Vernunft den Menschen dazu bringt, an sie zu glauben und sie anzunehmen."
Die Utopier streben nach Glückseligkeit, aber "sie glauben nicht, daß Glückseligkeit in jeglicher Art von Vergnügungen zu finden sei, sondern nur in den guten und anständigen. Dazu wie auch zum höchsten Guten wird unsere Natur durch die Tugend selbst gebracht, der die andere Schule allein die Glückseligkeit zuschreibt. Die Utopier verstehen Tugendhaftigkeit als das Leben gemäß der Natur, weil wir zu diesem Zweck von Gott geschaffen wurden. Jenes Individuum, so sagen sie, folgt der Führung der Natur, das dem Diktat der Vernunft gehorcht, indem es die eine Sache will und die andere vermeidet. Die Vernunft entfacht in den Menschen zuallererst eine Liebe und Verehrung der göttlichen Majestät, der wir sowohl unsere Existenz als auch die Fähigkeit zur Glückseligkeit verdanken. Zum anderen ermahnt und zwingt uns die Vernunft, ein Leben frei von Sorgen und voller Freude zu führen und aufgrund unserer natürlichen Gemeinschaft dafür zu sorgen, daß alle anderen Menschen auch diese Ziele erreichen."
Daraus folgt, daß die utopische Gesellschaft ökumenisch ausgerichtet ist; es gibt verschiedene Religionen auf der Insel, berichtet Raphael, aber sie stimmen alle darin überein, daß ein höchstes Wesen existiert -- der Schöpfer. Utopos schuf ein Gesetz zur Garantie das die Freiheit der Religion und Konversion, sofern diese durch vernünftige Argumente geschah. Er handelte so, um den Frieden zu sichern, aber auch "weil er glaubte, daß dies dem besten Interesse der Religion selbst diente. Aber er legte nicht fest, welcher Glaube der einzig wahre ist. Offensichtlich hielt er es für möglich, daß Gott auf vielfältige Weise verehrt werden wollte."
Sich natürlich verhalten hieß für die Utopier, sich vernunftgemäß, d.h. tugendhaft verhalten. Darin liegt die wahre Glückseligkeit und Vergnügung, die sie in zwei Bereiche einteilen, "jene, die der Seele zugeschrieben werden, und die, welche zum Körper gehören. Der Seele schreiben sie die Weisheit (Klugheit) zu und die Reinheit, die aus der Besinnung auf die Wahrheit entsteht."
Raphael schließt mit den Worten: "Nirgendwo auf der Welt gibt es hervorragendere Menschen noch einen glücklicheren Staat... Nirgendwo auf der Welt gibt es solch eine ausreichende Versorgung mit Getreide und Vieh, nirgendwo ist die physische Konsistenz der Menschen so kräftig und sowenig anfällig für Krankheiten."
Raphael berichtete, daß er den Utopiern die griechische Antike nahebrachte. Sie seien außerordentlich daran interessiert gewesen, sich unter seiner Anleitung mit den Originaltexten auseinanderzusetzen. Raphael unterrichtete sie, und innerhalb von drei Jahren beherrschten sie die Sprache. Dies zeigt, so vermutete er, daß ihre eigene Sprache mit dem Griechischen verwandt sein könnte, auch wenn sie dem Persischen sehr ähnlich sei. Begeistert stürzten sich die Utopier auf die griechischen Texte, die Raphael mit sich auf die Reise genommen hatte, und zwar nicht nur auf die philosophischen Werke, sondern auch auf die medizinischen Texte, weil sie die Medizin "für einen der schönsten und bedeutendsten Zweige der Wissenschaft halten. Und ihrer Ansicht nach ziehen sie bei der Erforschung der Geheimnisse der Natur nicht nur großes Vergnügen aus dieser Arbeit, sondern erfreuen damit zugleich auf bestmögliche Weise den Schöpfer. Sie gehen davon aus, daß Er wie ein normaler Künstler reagiert und den sichtbaren Mechanismus der Welt als ein Schauspiel für den Menschen geschaffen hatte, dem Er allein die Fähigkeit verliehen hatte, solche wundervollen Zusammenhänge zu verstehen. Deshalb zieht Er einen sorgfältigen und eifrigen Bewahrer und Bewunderer seiner Werke demjenigen vor, der wie ein vernunftloses wildes Tier dumm und stur an einem so großen und wundervollen Spektakel vorbeigeht."
Bei einer solchen humanistischen Anschauung und sozialen Organisation wundert es niemanden, daß die Utopier den Frieden lieben. In Anbetracht ihrer Erfolge werden sie oft von anderen Regierungen gebeten, ihnen Berater zu entsenden. "Die Nationen, die ihre Beamten aus Utopia holen, werden von ihnen Alliierte genannt; der Begriff ,Freund' ist allen anderen vorbehalten, denen sie geholfen haben. Verträge, wie sie zwischen allen anderen Nationen so häufig abgeschlossen werden, gebrochen und wieder erneuert werden, schließen sie mit keiner Nation ab. ,Was ist der Nutzen eines Vertrages, so fragen sie, sind nicht alle Menschen von Natur aus Verbündete? Und wenn jemand auf ein so grundlegendes Band keine Rücksicht nimmt, glaubst du, er wird sich in irgendeiner Form um Worte scheren?' Sie glauben, daß Verträge Menschen eher dazu bringen, sich gegenseitig als natürliche Feinde zu betrachten... Sie glauben, daß niemand, der dir keinen Schaden zugefügt hat, Feind genannt werden darf, daß die Gemeinschaft, die durch die Natur geschaffen wurde, den Platz eines Vertrages einnimmt und daß Menschen besser und fester durch den guten Willen zueinander stehen als durch Verträge, mehr durch den Geist als durch das geschriebene Wort."
Deshalb hassen die Utopier den Krieg und halten ihn für etwas, das nur "für wilde Tiere angemessen ist". Sie ziehen nur zur Selbstverteidigung in den Krieg, wenn sie angegriffen werden, oder um ihre Freunde von Eindringlingen oder Tyrannen zu befreien. Das höchste Ziel ist dabei für sie, den Feind "durch Kriegslist und Geschick" zu schlagen. Wenn sie auf diese Weise den Krieg gewonnen haben, "fühlen sie einen großen Stolz und feiern einen öffentlichen Triumph... Sie rühmen sich, daß sie mit Heldenmut und Tapferkeit gehandelt haben, wenn immer ihr Sieg dergestalt ist, daß kein Wesen außer dem Menschen ihn gewinnen konnte, das heißt, durch die Stärke des Geistes."
Dieses Konzept eines Sieges durch "Flankenoperationen" zeigt sich u.a. daran, daß sie Plakate mit ihrem Siegel im Feindesland anbringen, auf denen sie Belohnung für die Ermordung des feindlichen Königs versprechen oder noch größere Belohnung für das Übergeben von lebenden Feinden. "Dies sät Mißtrauen und verbreitet Unsicherheit in die Reihen des Gegners und gibt den Utopiern Gelegenheit, den Feind oft ohne Blutvergießen zu besiegen. Auf diese Methode sind sie sehr stolz, weil sie um das Heer und die Bevölkerung des Feindes trauern wie um ihre eigenen Bürger." Sie wissen, daß das Volk nicht zu seinem Vergnügen in den Krieg zieht, sondern durch den Wahn seiner Könige dazu gezwungen wird.
Utopia wurde oft als Beschreibung einer vollkommenen Gesellschaft, wie Morus sie sich vorstelle, mißverstanden. Ebenso wie Erasmus' Lob der Torheit ist es jedoch ein sehr ironisches Werk, das mit Paradoxen spielt, um den Geist des Lesers zu zwingen, die dargestellten Ideen wirklich zu durchdenken. Morus' Utopia arbeitet durch Betonung und Überspitzung der Gegensätze die Torheiten einer Gesellschaft heraus, die auf der Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse, Machthunger und anderen irrationalen Trieben basiert. Mit vielen mehr oder weniger verdeckten Anspielungen bezieht sich Morus auf die Lage in England. Es ist, als wolle er sagen: Was könnte aus England mit seiner "Neuen Bildung", seiner humanistischen Kultur und seinen enormen Ressourcen werden, wenn es Utopias Prinzipien folgte?
Eine Grundvoraussetzung dafür war, daß der Herrscher, der König dieser Herausforderung moralisch gewachsen ist.
Wie viele andere setzten Morus und Erasmus große Hoffnungen in den neuen König Heinrich VIII. Er war zwar noch sehr jung, aber als Sohn des besten Königs, den England je hatte, genoß er die vielfältigen Früchte einer humanistischen Erziehung, die ihm sein Vater persönlich angedieh. Als er mit 18 Jahren den Thron bestieg, beherrschte Heinrich VIII. die englische, französische, lateinische und italienische Sprache und war in Geschichte, Naturwissenschaften und Theologie bewandert. Er verfügte über alle Eigenschaften eines Edelmannes wie Reiten und Fechten und war ein begabter Musiker und Komponist.
Thomas Morus spielte nicht nur eine bedeutende politische Rolle in der Regierung Heinrichs VIII. -- er war Mitglied des inneren Kreises im Kronrat als Master of Request (Amt eines hohen Richters am Court of Requests, wo an den König gerichtete Armenklagen verhandelt wurden). Er war vor allem auch ein geschätzter Gesprächspartner des Königs, welcher ihn bald zum Ritter schlug. Mores Schwiegersohn William Roper berichtet in der Biographie:
"So wurde er im Laufe der Zeit vom Fürsten mit immer höheren Ämtern betraut, und mehr als 20 Jahre lebte er in dessen besonderer Gunst und leistete ihm treue Dienste. In dieser Zeit ließ ihn der König wiederholt an Feiertagen, wenn er seine religiöse Pflicht erfüllt hatte, in seine Privatgemächer holen, saß dort mit ihm zusammen und unterhielt sich mit ihm über Gegenstände der Astronomie, Geometrie, Theologie und anderer Wissenschaften, zuweilen aber auch über seine weltlichen Angelegenheiten. Ein andermal befahl er ihn nachts zu sich auf das flache Dach und sprach mit ihm über die mannigfaltigen Arten, Bahnen, Bewegungen und Verhaltensweisen der Sterne und Planeten."
Trotz seiner engen Beziehung zum König, der aus seiner Vorliebe für More kein Geheimnis machte, opferte Sir Thomas der königlichen Gunst niemals seine Prinzipien. In einer seiner ersten Reden vor dem Parlament als Unterhaussprecher setzte er sich sprachgewaltig für die Redefreiheit ein:
Deshalb ist dies [das Parlament] ohne Zweifel eine sehr ansehnliche Versammlung kundiger und staatskluger Männer. Nun aber, siegreicher Fürst, sind unter so vielen klugen Männern nicht alle im gleichen Grade klug, noch ist unter so vielen gleichartig Begabten ein jeder gleich redegewandt und kommt es ebenfalls oft vor, daß sehr viel Unkluges in geschliffener Rede gefällig vorgetragen wird, während andere, ungehobelt und rauh in ihrer Ausdrucksweise, in Wirklichkeit tiefe Einblicke haben und recht wertvolle Ratschläge geben
Es ist auch zu bedenken, gnädigster Herrscher, daß in Eurem hohen Parlament nur schwerwiegende und bedeutende Angelegenheiten behandelt werden, die Euer Reich und Euren eigenen königlichen Stand betreffen. Wenn daher nicht jedem einzelnen von Euren Abgeordneten jeder Zweifel und jede Furcht genommen wird, wie Eure Hoheit eine zufällige Äußerung auslegen könnte, so würden sich unvermeidlich viele Eurer besonnenen Unterhausmitglieder gehemmt fühlen und schweigen, anstatt ihre Meinung und ihren Rat zu äußern, und das zur Behinderung der Staatsgeschäfte.
Darum möge es Euch gefallen, gütigster und mildester König, in Eurer übergroßen Huld allen Euren hier versammelten Unterhausmitgliedern allergnädigst zu gewähren, daß ein jeder ohne Furcht vor Eurem Mißfallen der Stimme seines Gewissens folgen und bei allem, was unter uns besprochen wird, freimütig seine Ansicht äußern kann. Und was immer einer sagt, das möge Eure edle Majestät in Eurer unschätzbaren Duldsamkeit gut aufnehmen; wie ungeschickt die Worte auch abgefaßt sein mögen, ist doch aus ihnen der große Eifer zu erkennen, das Gedeihen des Reiches und die Ehre Eurer königlichen Person zu fördern."
Die schwerste Gewissensprüfung war für Morus die Angelegenheit der Scheidung Heinrichs VIII. von Katharina von Aragon und unmittelbar darauffolgenden Heirat mit Anna Boleyn. Er mußte entscheiden, was Vorrang hatte: Gott zu dienen und nach dem Naturrecht zu handeln oder ob dem König zu dienen und dessen Befehl zu folgen.
Die Fakten dieses als Heinrichs "Große Sache" bekannten Falles sind wohlbekannt, unzählige Bücher haben sich damit beschäftigt. Trotzdem bleibt es ein Rätsel, warum Heinrich VIII. gerade so und nicht anders handelte. Der König forderte die Annullierung seiner Ehe mit Katharina von Aragon, einer Tante Kaiser Karls V., um Anna Boleyn heiraten zu können (angeblich, um sicherzustellen, daß es einen männlichen Erbfolger gäbe). Als es seinem Lordkanzler Wolsey nicht gelang, eine Annullierung der Ehe in Rom durchzusetzen, und Morus als dessen Nachfolger sich in dieser Angelegenheit verweigerte, erzwang Heinrich VIII. 1532 die Unterwerfung des Klerus unter seine Gewalt als Oberhaupt der Kirche von England, heiratete Anna Boleyn mit dem Wohlwollen des Erzbischofs von Canterbury Thomas Cranmer (der auch die andere Ehe annullierte) und ließ sie 1533 zur Königin krönen. Im folgenden Jahr erließ er ein Erbfolgegesetz, das sicherstellte, daß seine und Annas Nachkommen die zukünftigen Herrscher werden würden. Alle Untertanen mußten den Treueeid auf dieses Gesetz leisten und Heinrich als Oberhaupt der Kirche anerkennen, sonst wurden sie als Verräter verurteilt. Thomas Morus weigerte sich. Er wurde in den Tower geworfen und 1535 nach einem Gerichtsverfahren enthauptet.
Dieses Drama entfaltete sich vor dem Hintergrund gewaltiger geopolitischer Manipulationen. Nach dem Krieg der Liga von Cambrai gegen Venedig 1510 wurden England (das man nicht gefragt hatte, ob es der Liga beitreten wolle), Frankreich, Spanien und der Vatikan in einem typisch venezianischen Ränkespiel gegeneinander ausgespielt. Heinrich VIII. schloß 1525 mit Franz I. von Frankreich Frieden und verwandelte 1527 das Bündnis mit Frankreich in eine Front gegen das habsburgische Spanien. Daraufhin ließ Karl V. seine spanischen und deutschen Söldner vom Mai 1527 bis zum Februar 1518 Rom plündern und verwüsten (Sacco di Roma) und machte Papst Clemens VII. zu seinem Gefangenen. 1529 besiegte er die Franzosen in Italien und unterzeichnete einen Friedensvertrag. Es war ausgeschlossen, daß der Papst einer Annullierung der Ehe Heinrichs mit der Tante Karls V. zustimmen würde, noch dazu, wo Spanien und England miteinander im Krieg standen. Selbst nach dem -- von More und Cuthbert Tunstall ausgehandelten -- Friedensvertrag von Cambrai 1529 zwischen Spanien, Frankreich und England deutete nichts darauf, daß der Papst, der noch fest unter der Kontrolle der habsburgischen Macht stand, einwilligen würde.
Die Schlüsselfigur, die Heinrichs wechselnde Bündnisse und auch den Scheidungsprozeß einfädelte, war Lordkanzler Kardinal Wolsey. Wolsey, dessen kometenhafter Aufstieg parallel zu Mores verlief, war als Mensch das vollkommene Gegenteil von Morus: ehrgeizig und machthungrig, falsch und skrupellos, dabei wankelmütig, arrogant, eingebildet und ein abstoßender Speichellecker. In der Boleyn-Affäre agierte er als Marionette Venedigs, das durch die Förderung der protestantischen Reformation die Christenheit spalten wollte.
Wolsey trat zunächst als Kaplan in die Dienste Heinrichs VII. und schmeichelte sich bei den Mitgliedern des Kronrates ein, die von seiner geistigen Gewandtheit und Raffinesse beeindruckt waren. Als man ihn auf seine erste diplomatische Mission zu Kaiser Maximilian sandte, erledigte er diese so schnell und effizient, daß er damit die Bewunderung des Königs erlangte. Als Mitglied des Rates unter Heinrich VIII. setzte er seine rhetorische Kunst so überzeugend ein, daß er der Verbindungsmann zwischen Rat und König wurde.
Wolseys Biograph Cavendish erzählt anschaulich, wie er nach und nach den König von wichtigen Angelegenheiten ausschloß und einfach selbst entschied. Er nutzte aus, daß der König jung und sehr auf sein Vergnügen bedacht war. Während andere Räte den König immer wieder ermahnten, auch seine Herrscherpflichten zu erfüllen, riet Wolsey ihm das Gegenteil. Er überzeugte Heinrich, daß er sich ganz seinen Vergnügungen widmen könne, wenn er Wolsey, entsprechend instruiert, an seiner Stelle an den Sitzungen des Rates und der Erörterung der Staatsangelegenheiten teilnehmen ließ.
Bald maßte Wolsey sich an, auch ohne entsprechende Instruktion für den König zu sprechen. Wie der venezianische Botschafter Sebastiano Giustiniano an den Dogen berichtete, pflegte Wolsey anfangs noch zu sagen: "Ihre Majestät wünscht dies oder jenes", später ging er sich selbst vergessend dazu über zu sagen: "Wir werden dies oder jenes tun", bis er sich zuletzt angewöhnte zu sagen: "Ich werde dies oder jenes tun". Bald wußte das ganze Land, daß es Wolsey war, der regierte, und nicht Heinrich VIII.
1514 wurde Wolsey Bischof von Lincoln und kurz danach auch von York, später Erzbischof von York/Canterbury und im November 1514 Kardinal. Als er diese Position erreicht hatte, trat seine Prunksucht offen zutage. Selbst zu einer Parlamentssitzung reiste er stets nur mit großem, wie Morus bemerkt, "königlichem" Gefolge an. Wie Wolseys Biograph beschreibt, wurde Wolsey 1518 "legate de latere", (Vertreter des Papstes) in England. Zusätzlich zu den Geistlichen, Schreibern und anderen Beamten, die ihn ständig begleiteten, ließ er nun, wohin er ging oder ritt, auch zwei große Silberkreuze von den beiden größten Priestern, die er finden konnte, vor sich hertragen. Allein die Liste seiner Diener, Herren, Damen und anderen, die ihn in seinem luxuriösen Haus und in der Kirche bedienten, beansprucht fünf Seiten in Cavendishs Biographie, endend mit: "Hier beende ich den Bericht über seinen Haushalt, der nach seiner Gehaltsliste ungefähr 500 Personen umfaßt."
Wolseys Haus war bekannt für seine aufwendigen gesellschaftlichen Veranstaltungen: Feste, Theateraufführungen, Maskenbälle, Tanzabende. Es geschah auf einem dieser Maskenbälle, daß Heinrich mit Anna Boleyn tanzte, was vermutlich der Beginn der Affäre war. Um die Fäden nicht aus der Hand zu geben, diente Wolsey dem König in der Angelegenheit als Bote. Als Heinrich VIII. erfuhr, daß Anna mit einem Lord Percy verlobt war, eilte Wolsey zu diesem jungen Mann, um ihn zu überzeugen, die Verlobung aufzulösen, mit der Begründung, sein Vater billige die Verbindung nicht, und der König habe für sie einen anderen Ehemann auserwählt. Es wird berichtet, Anna habe Wolsey das nie verziehen und beteiligte sich -- zusammen mit Ratsmitgliedern, die seine Manipulation des Rates mißbilligten -- an Intrigen gegen ihn.
Als die Zuneigung des Königs zu Anna öffentlich bekannt wurde, berief Wolsey eine Versammlung von Gelehrten und Prälaten ein, um die Möglichkeiten zu prüfen, eine glaubwürdige rechtliche Begründung für eine Scheidung und neue Heirat zu finden. Wolsey versuchte auch, den vom Vatikan mit der Regelung der Angelegenheit beauftragten Kardinal Campeggio dazu zu bewegen, sich für die Annullierung auszusprechen. Aufgrund seines intriganten Verhaltens sank Wolseys Ansehen bei allen Beteiligten dermaßen, daß er, als der König und die Königin vor dem Gerichtshof in England erscheinen sollten, den König ersuchte, eine Erklärung über seine Rolle abzugeben. Wolsey appellierte auch gemeinsam mit Campeggio an Katharina, die Angelegenheit aus der Welt zu schaffen, indem sie ins Kloster ginge, was diese aber ablehnte.
Wolseys Biograph Cavendish schreibt, Anna habe sich bei Heinrich VIII. über Wolsey beklagt, er sei ein Verleumder und habe sie entehrt. Der König führte daraufhin mit Wolsey ein Gespräch unter vier Augen, über dessen Inhalt nichts bekannt wurde. Aber wenig später schickte der König die Herzöge von Suffolk und Norfolk zu Wolsey, um diesen darüber zu informieren, daß er seines Amtes enthoben wäre. Sein Sturz war so rasant wie sein Aufstieg. Am 9. Oktober 1529 beschloß das Parlament die Einziehung aller seiner Güter. 1530 wurde er des Verrats beschuldigt, starb aber, bevor er bestraft werden konnte.
Offiziell wurde sein Sturz seinem Versagen in der Außenpolitik und der Diplomatie mit dem Vatikan bezüglich Heinrichs "Großer Sache" zugeschrieben. Aber es gibt andere Hintergründe.
Was waren Kardinal Wolseys Beweggründe? Offensichtlich war das Streben nach Macht ein Teil seines Charakters, der seine Karriere prägte. Aber es war nicht einfach nur eine Frage der Persönlichkeit: Politisch trachtete Wolsey von Anfang an danach, immer mehr Macht an sich zu reißen und die Kirche von England als Staatskirche zu etablieren. Er hatte schon 1515 als Lordkanzler und als Erzbischof von York zwei der hochrangigsten Ämter der Krone inne. Das an sich war noch nicht ungewöhnlich, aber Wolsey versuchte, wie ein Reformationshistoriker schreibt, "nichts weniger zu erreichen, als die englische Kirche und den englischen Staat mit ihm selbst unter dem König an ihrer Spitze zu vereinigen".
Ein weiterer wichtiger Schritt dazu war seine Ernennung zum päpstlichen Legaten. In dieser Funktion war er direkter Repräsentant des Papstes, was bedeutete, daß er in England gleich eine doppelte Autorität ausüben konnte. U.a. besaß er damit die Amtsgewalt über die Klöster, die direkt dem Vatikan unterstanden. Es ist bezeichnend, auf welche Weise Wolsey päpstlicher Legat wurde: 1518 wollte Papst Leo Kardinal Campeggio nach England schicken, um für sein Vorhaben eines Krieges gegen die Türken zu werben, das englische Recht erlaubte den Empfang des Legaten aber nur, wenn ihm Wolsey zu gleichen Bedingungen als Legat zur Seite gestellt wurde. Wolsey erreichte, daß sein Legat immer wieder verlängert wurde, bis es 1523 in ein zeitlich unbefristetes umgewandelt wurde. Nunmehr hatte er soviel Macht in seiner Person vereinigt, daß er darangehen konnte, den Bruch mit Rom herbeizuführen.
Die Tatsache, daß und wie Wolseys Manipulationen in Heinrichs Affäre mit Anna Boleyn tatsächlich zum Bruch mit Rom führten, läßt sich nur dadurch erklären, daß Wolsey ein Werkzeug der Venezianer war, welche die Reformation als Mittel benutzen, um die Christenheit zu spalten und um verheerende Religionskriege in Gang zu setzen.
Wolsey kannte Heinrich und dessen Schwäche für Frauen genau, und er arrangierte das erste Treffen mit Anna Boleyn. Gleichzeitig ließ Wolsey dem König über dessen Beichtvater einreden, Heinrichs Ehe mit Katharina von Aragon sei als "Verwandtenehe" nicht rechtens, weil sie zuvor vorher die Frau von Heinrichs Bruder Arthur gewesen war, der jung gestorben war. Wolsey setzte sich jedoch nur scheinbar für die Annullierung der Ehe ein. Tatsächlich hatte er vor, falls dieser Plan Erfolg hätte, Heinrich zu überreden, nicht Anna, sondern die Schwester des französischen Königs zu heiraten. Anna Boleyn war für ihn nur ein Werkzeug, und tatsächlich war sie seine Todfeindin.
Wolsey manipulierte auch die päpstliche Delegation unter Kardinal Campeggio so, daß sie im Endeffekt scheiterte. Campeggio besaß zwar eine geheime Vollmacht, womit er die Eheangelegenheit rechtlich hätte beilegen können, doch der Papst hatte ihn zugleich angewiesen, den Aufenthalt in England so lange wie möglich herauszuzögern. Dies tat Campeggio mit Wolseys Unterstützung auch gründlich, bis der Papst schließlich den Fall nach Rom zurückberief. Nachdem Campeggio in Absprache mit Wolsey (und nur mit ihm) nach Rom zurückgereist war, schrieb Wolsey dem Papst und bat ihn, die Entscheidung weiter aufzuschieben. Damit sorgte er dafür, daß für Heinrich der einzige Ausweg im Bruch mit Rom zu liegen schien.
Shakespeare behandelt das Thema in seinem Drama Heinrich VIII.. Aus offensichtlichen Gründen konnte Shakespeare, der zur Herrschaftszeit von Heinrichs Tochter Königin Elisabeth I. und Jakob I. dichtete, Heinrich VIII. nicht als die tragische Figur darstellen, die er war. Das Schauspiel ist, zumindest formal gesehen, ein Geschichtsdrama und keine Tragödie. Auch ist es als Darstellung der Geschichte unvollständig, weil das gesamte Drama um Sir Thomas Morus ebenso wie der Bruch mit Rom weggelassen ist. Morus wird nur ein einziges Mal namentlich erwähnt, als sein Diener Cromwell Wolsey darüber informiert, daß Morus sein Nachfolger würde. Das Schauspiel endet mit einer Lobeshymne auf Heinrich VIII. und Elisabeth, auf die als neugeborenes Kind Bezug genommen wird. Doch waren die Zuschauer in England, die das Stück zu Shakespeares Zeit sahen (die erste bekannte Aufführung war 1613), natürlich vertraut mit all den tragischen Ereignissen, die aus dem Stück herausgelassen werden mußten. Nur aus dem Prolog konnten sie herauslesen, was Shakespeare -- der nach neuen Forschungen ein heimlicher Katholik war -- dachte und wußte.
Wolsey steht im Mittelpunkt des Schauspiels, als Widersacher sowohl Katharina von Aragons als auch Anna Boleyns. In der Auseinandersetzung mit diesen weiblichen Hauptfiguren, die beide als tugendhaft, ehrlich und Heinrich ergeben dargestellt werden, erscheint er als die bösartige, intrigante Schlange, die er war. Schon in der Eingangsszene bezeichnen die Herzöge Buckingham und Norfolk Wolsey als "korrupt und verräterisch". Sie werfen ihm u.a. vor, den Frieden mit Frankreich sabotiert zu haben. Buckingham sagt über Wolsey:
...durch sichere Kundschaft
Und Proben, die so klar wie Bäch' im Juli,
Wenn jedes Korn von Kies wir sehen, kenn ich,
als feil, verräterisch.
Als Buckingham, der geschworene Feind Wolseys, schon bald verhaftet, des Verrats angeklagt und in den Tower geworfen wird, erkennt er sofort, daß dahinter ein Komplott Wolseys steckt. Zwei Edelleute, die sich über die über Buckingham verhängte Todesstrafe unterhalten, fügen noch hinzu, daß Wolsey Heinrich gegen die "gute Königin" aufgebracht hatte. "Der Kardinal... weckt in ihm, / Die gute Fürstin hassend, solche Skrupel, / Die ihr Verderben drohn..."
Auch die Herzöge von Norfolk und Suffolk machen den "blinden Pfaffen" Wolsey für Heinrichs "Zweifel und Gewissensangst" verantwortlich und werfen dem Kardinal vor: "Von all dem nun den König zu erlösen, / Rät er zur Scheidung, rät sie zu verstoßen, / Die zwanzig Jahr an seinem Halse hing..." Keinem, der Einsicht habe, entgehe der Zweck, die Ehe mit Frankreichs Schwester.
Bei der Anhörung der Untersuchungskommission zur Frage der Ehescheidung unter Vorsitz der Kardinäle Wolsey und Campeggio hält Katharina eine leidenschaftliche Rede, bei der sie vor dem König knieend noch einmal ihre Tugend, Liebe und Loyalität zu ihm unter Beweis stellt. Und in einer späteren Szene wendete sie sich mit feurigen Worten gegen Wolsey:
...Ich heg' den Glauben,
Und bin gestützt auf mächt'ge Gründ', Ihr seid
Mein Feind; und so erklär' ich meinen Einspruch:
Ihr sollt mein Richter nimmer sein. Denn Ihr
Bliest zwischen mir und meinem Herrn die Glut,
Die Gottes Tau mag dämpfen! Drum noch einmal
Verabscheun muß ich, ja, aus tiefster Seel
Verwerf ich Euch als meinen Richter, der
Ich wiederhols, mein schlimmer Feind mir scheint
Und nicht ein Freund der Wahrheit...
(2. Aufzug, 4. Szene)
Als Campeggio und Wolsey Katharina alleine aufsuchen und sie zu überreden suchen, in ein Kloster zu gehen, macht sie sich über diesen "christlichen Ratschlag" lustig und sagt: "Ihr wähnt Euch heilig, / Zwei kardinale Tugenden; jetzt find ich / Nur kardinale Laster, hohle Herzen." (3. Aufzug, 1. Szene).
Und endlich wird Wolseys Doppelspiel entlarvt.
Suffolk: Des Kardinals Brief an den Papst ging fehl
Und kam dem König zu Gesicht: er las,
Wie seiner Heiligkeit Rat wird erteilt,
Das Scheidungsurteil nicht zu fällen; ,wofern
Es statt doch fände', schreibt er, "ahn ich deutlich,
Wie weit des Königs Neigung schon gefesselt
'Ne Magd der Königin, Fräulein Anna Bullen.
(3. Aufzug, 2. Szene)
Auch sein Komplott mit Campeggio wird aufgedeckt:
Suffolk: ...Kardinal Campejus
Ist heimlich abgereist nach Rom, ohn Abschied
Und ohne dies Geschäft zu schlichten: er
Ist fortgeschickt als Wolseys Unterhändler,
Um dessen List zu fördern. Ich versichre Euch,
Der Herr, als ers erfuhr, rief "Ha!"
(3. Aufzug, 2. Szene)
Nach dem tiefen Fall Wolseys schließt das Stück mit der Taufe des neugeborenen Kindes von Heinrich und Anna, der späteren Königin Elisabeth.
Morus und Wolsey erscheinen wie im mittelalterlichen Drama der gute und der schlechte Engel, die um die Seele des Königs kämpfen. Wie gesagt, konnten beide nicht unterschiedlicher sein; in jeder Beziehung vertraten sie unterschiedliche Werte und Kriterien und handelten deshalb auch verschieden. Während Wolsey nach seinem Sturz zugibt: "Hätt ich nur meinem Gott gedient mit halb dem Eifer, / Den ich dem König weiht, er gäbe nicht / Im Alter nackt mich meinen Feinden preis!", lag Morus' Stolz darin, daß er recht gehandelt hatte. Und seine letzten Worte lauteten: "Ich sterbe als des Königs treuer Diener, aber als Gottes Diener zuerst."
Morus kämpfte in allen seinen öffentlichen Ämter beständig für Gott und die Wahrheit. Dies gilt für seine Zeit als Richter am Appellationsgericht, wo die Armen ihre Beschwerden dem König vorlegen konnten, ebenso wie in seiner Funktion als Parlamentspräsident und schließlich auch in besonderem Maße, als er 1530 das Amt des Lordkanzlers erhielt. Wie Roper schreibt, beförderte Heinrich Morus bewußt, um ihn in der Scheidungsfrage für sich zu gewinnen. Heinrich glaubte, Morus wäre als einer der am meisten respektierten Intellektuellen Englands in der Lage, entweder das in Rom angestrengte Verfahren zur Annullierung der Ehe mit Katharina erfolgreich zu beenden oder dem König zu der notwendigen Glaubwürdigkeit zu verhelfen, egal, wozu dieser auch immer Zuflucht nähme.
Morus machte deutlich, daß er dem König in jeder Weise dienen, aber niemals seine Verpflichtungen gegenüber der höheren Autorität Gottes und der Kirche brechen würde. In einem Gespräch mit seinem Schwiegersohn während eines Spazierganges entlang der Themse sagte er: "Bei Gott, Sohn Roper, unter der Bedingung, daß drei Dinge für die Christenheit in Erfüllung gehen, würde ich mich in einen Sack stecken und augenblicklich hier in die Themse werfen lassen." Als Antwort auf die Frage, welche die drei Wünsche seien, erklärte er: "In aller Aufrichtigkeit, mein Sohn, sind es folgende: Das erste ist, daß die Mehrheit der christlichen Fürsten, statt mörderische Kriege gegeneinander zu führen, in einem allgemeinen Frieden leben. Der zweite, daß die Kirche Christi, die zur Zeit bitter unter vielen Irrtümern und Häresien leidet, in einer vollkommenen Einheit der Religion fest gesichert sei. Der dritte, daß die Eheangelegenheit des Königs, die jetzt die Gemüter bewegt, zur Ehre Gottes und zum Frieden aller Parteien zu einem guten Ende gebracht würde."
Morus machte deutlich, daß er die Ernennung zum Lordkanzler nur annehmen wolle, wenn er nicht gezwungen wäre, sich an der Beilegung von Heinrichs Eheangelegenheiten zu beteiligen. So schrieb er am 5. März 1534 an seinen Sekretär Cromwell: "Nachdem ich [aus Cambrai] zurückgekehrt war, machten mich Seine Hoheit zum Lordkanzler, wie Ihr wißt, obwohl ich dessen nicht wert war. Bald danach legte er mir wieder nahe, seine große Sache noch einmal zu erwägen und unvoreingenommen zu überprüfen. Wenn ich dann zu der Überzeugung gelangen sollte, daß Seine Ansicht richtig sei, wollte er mich gerne als einen Seiner intimsten Ratgeber in dieser Angelegenheit verwenden. Er erklärte jedoch in Seiner Güte, Er wolle auf keinem Fall, daß ich etwas anderes sage oder tue, als ich mit meinem Gewissen vereinbaren könne. Ich sollte zuerst auf Gott schauen und nach Gott auf Ihn. Mit solch gütigen Worten empfing mich der König in meinem neuen Dienst."
Noch bevor er zum Lordkanzler ernannt wurde, war sich Morus der Tatsache bewußt, daß die Krise zwischen England und Rom auf den Höhepunkt zusteuerte. Schon seit 1530 wurden Katholiken verfolgt. Zuerst wandte sich der König gegen die Bischöfe und Theologen, die sich in der Scheidungsfrage auf die Seite Katharinas gestellt hatten. Im darauffolgenden Jahr begann er mit der Konfiszierung der Kirchengüter, was bis 1539 zur Schließung aller Kloster führte. 1532 forderte er dann vom Klerus, sich seiner Autorität zu unterwerfen und ihn als Kopf der Kirche von England anzuerkennen. Als der Klerus am 15. Mai 1532 kapitulierte, trat Morus als Lordkanzler zurück.
Am 25. Januar 1533 nahm Heinrich die schwangere Anna Boleyn zur Frau, und es war sein Erzbischof von Canterbury, Thomas Cramner, der seine vorherige Ehe am 23. Mai 1533 annullierte. Am 1. Juni wurde Anna dann in einer pompösen Zeremonie zur Königin gekrönt. Morus blieb der Zeremonie fern.
Morus wurde unter Druck gesetzt, entweder Heinrich als Kopf der Kirche anzuerkennen oder zum Verräter gestempelt zu werden. Dann erließ Heinrich im März 1534 das Thronfolgegesetz, das seinen und Annas Nachkommen den Thronanspruch garantierte -- wieder mit der Drohung, wer dies nicht anerkenne, sei ein Landesverräter. Am 13. April 1535 erschien eine königliche Kommission bei Morus, um von ihm den Treueeid zu fordern, was er verweigerte. Einige Tage später wurde er in den Tower geworfen, wo man ihn bis zu seiner Hinrichtung am 6. Juli 1535 beständig drängte, den Treueeid doch noch zu leisten.
Während seines ganzen Verfahrens blieb Morus standhaft dabei, es gehe ihm darum, den Gesetzen Gottes zu gehorchen, die höher stünden als die Gesetze einer weltlichen Autorität. Er hielt zwar an der Heiligkeit der Institution der Ehe fest, betonte aber, es gehe ihm nicht um die Frage der Scheidung an sich, sondern um etwas viel Höheres. Morus war bereit, sich für die Wahrheit zu opfern, was auch mit ihm geschehen würde. Denn wenn er nur den einfachsten Weg wählte, würde dies nicht nur der Kirche einen tödlichen Schlag versetzen, sondern zudem das göttliche Naturrecht verletzen.
Sein Briefwechsel aus dem Gefängnis belegt den inneren Kampf um die Verteidigung der Wahrheit in seinem Wechsel zwischen Agonie und Zuversicht. Eine der bezeichnensten Episoden war eine Diskussion mit seiner Lieblingstochter Margaret, die an ihn appellierte, seine Position noch einmal zu überdenken: "Ihn (den König) hast Du immer so besonders gnädig Dir gegenüber gefunden, und wenn Du dich halsstarrig weigerst zu tun, was er möchte und was Gott nicht mißfällt (wie viele große Weise und Gelehrte behaupten, Du könntest es in dieser Sache tun), so wäre es nach jedes vernünftigen Mannes Meinung ein großer Mangel an Ehrfurcht und, wie ich es selbst von solchen, die Du für gut und hochgebildet hieltest, habe sagen hören, auch eine Gefahr für Deine Seele."
Morus entgegnete: "Tochter Margaret, wir beide haben über diese Dinge mehr als zwei- oder dreimal gesprochen, und die gleiche Geschichte, die Du mir jetzt erzählst und auch dieselbe Befürchtung hast Du schon zweimal angebracht, und so habe ich Dir auch zweimal geantwortet: Wäre es mir nur möglich, in dieser Sache so zu handeln, daß Seine Königliche Hoheit zufrieden wäre und Gott nicht beleidigt, dann würde keiner bereitwilliger und lieber seinen Eid leisten, als ich es tun wollte, der ich mich dem König der einzigartigen Gunst wegen, die er mir auf vielerlei Weise gezeigt hat, tiefer verpflichtet halte als sonst jemandem. Aber so, wie es um mein Gewissen steht, vermag ich es keinesfalls zu tun."
Aber Margaret drängt ihn noch einmal, den Treueeid zu leisten. Es sei ein Parlamentsakt, und auch andere hätten es getan, sogar gegen ihr Gewissen. Das will Morus nicht gelten lassen: "Mary Margaret, die Rolle, die Du übernommen hast, spielst Du nicht einmal schlecht. Aber Margaret, zunächst: was das Gesetz des Landes angeht, so ist jeder, der hier geboren wird und lebt, verpflichtet, es auf jeden Fall zu halten unter Androhung weltlicher Strafe und in vielen Fällen auf die Gefahr hin Gott zu mißfallen -- aber keiner ist verpflichtet zu schwören, daß jedes Gesetz gut gemacht ist, noch gebunden, Gottes Ungnade zu riskieren, um ein solches Gesetzesgebot zu erfüllen, das tatsächlich unrechtmäßig ist."
Am 3. Juni berichtet Morus seiner Tochter Margaret über die letzte Befragung durch die Kommission, die der König geschickt hatte. Zunächst wurde Morus eine Botschaft des Königs überreicht. Er schreibt, "daß Seine Majestät mit meiner Antwort keineswegs zufrieden war, noch sich damit begnügen würde, sondern fände, mein Verhalten sei der Anlaß zu viel Mißgunst und Aufruhr im Lande, und ich sei aufständischer und böser Gesinnung gegen ihn und sei als Untertan verpflichtet -- weswegen er seine Ratgeber in seinem Namen noch einmal geschickt habe, es mir bei meinem Untertaneneid zu befehlen --, eine eindeutige und endgültige Antwort zu geben, ob ich die Parlamentsakte gesetzmäßig fände oder nicht. Ja, ich sollte entweder anerkennen und als rechtmäßig bejahen, daß Seine Majestät das Oberhaupt der englischen Kirche sei -- oder aber meine Feindseligkeit offen eingestehen." Morus schreibt weiter, es schmerze ihn, daß der König einen solchen falschen Eindruck von ihm habe, aber er sei sicher, "daß die Zeit ommen wird, in der Gott meine Treue gegenüber Seiner Königlichen Gnaden ihm und aller Welt bezeugen wird". Und weiter:
"Nun möchte dies vielleicht nur ein geringer Grund zum Trost erscheinen, denn ich könnte doch hier in der Zwischenzeit zu Schaden kommen. Also dankte ich Gott, daß mein Fall in dieser Sache infolge meiner eigenen Gewissensklarheit so gelagert war, daß ich, auch wenn ich Strafe erdulden müßte, keinen Schaden [an meiner Seele] nehmen könnte; denn ein Mensch kann in einem solchen Fall seinen Kopf verlieren, ohne Schaden zu leiden. Ich war aber ganz sicher: Ich bin nicht böse geartet, sondern habe mich von Anfang an immer daran gehalten, zuerst auf Gott zu schauen und dann auf den König, entsprechend der Lehre, die Seine Hoheit mir, als ich zuerst in seine hohen Dienste trat, erteilt hat -- die vornehmste Anleitung, die je ein Fürst seinem Untertan gab."
Am 1. Juli 1535 wurde Morus in Westminster Hall vor Gericht gestellt, und er bestand darauf, persönlich zu erläutern, warum er die Anklage für unrechtmäßig halte. So sagte er:
"Da ich sehe, daß ihr entschlossen seid, mich zu verurteilen (Gott weiß wie), will ich nun zur Erleichterung meines Gewissens meine Meinung wider die Anklage und das Statut offen und frei darlegen.
Wie diese Anklage auf eine Parlamentsakte gegründet ist, die in unmittelbarem Widerspruch zu den Gesetzen Gottes und seiner heiligen Kirche steht, deren höchste Leitung sich kein weltlicher Fürst auf Grund irgendeines Gesetzes in ihrer Gesamtheit oder auch nur in Teilen anmassen darf, da sie von Rechts wegen dem Heiligen Stuhl in Rom als ein geistiger Vorrang zusteht, der dem heiligen Petrus und seinen Nachfolgern, den Bischöfen eben jenes Heiligen Stuhls, durch den Mund unseres Heilands selbst als ein Privileg zuerkannt worden ist, darum ist dies kein Gesetz, auf Grund dessen ein Christ von Christenmenschen unter Anklage gestellt werden kann."
Als ihm entgegengehalten wurde wurde, daß Autoritäten in der Kirche und an den Universitäten nicht mit seiner Sicht der Dinge übereinstimmten, entgegnet Morus, er fühle sich einer höheren Autorität verpflichtet:
!Wenn niemand sonst als ich allein auf meiner Seite stände und das gesamte Parlament auf der anderen, wäre ich unsicher, meine Meinung gegen so viele andere zu vertreten... Aber ich zweifle nicht, daß zwar nicht in diesem Reich, aber doch in der ganzen Christenheit nicht der kleinere Teil der gelehrten Bischöfe und tugendhaften Männer, die noch leben, hierin mit mir meiner Meinung sind. Aber wenn ich von denen sprechen sollte, die schon tot sind und deren jetzt viele sich als Heilige im Himmel befinden, so wäre ich völlig sicher, daß der weitaus größere Teil von ihnen ebenso gedacht hat wie ich. Deshalb, meine Herren, bin ich nicht verpflichtet, mein Gewissen einem einzelnen Reich gegen das allgemeine Konzil der Christenheit anzupassen. Denn jedem eurer Bischöfe kann ich hundert aus den genannten heiligen Bischöfen entgegenstellen. Für euer eines Konzil oder Parlament -- Gott weiß, was das für eins ist -- habe ich alle Konzile seit tausend Jahren."
Und er schloß mit den Worten: "Was ich hier sage, ist reine und wahre Notwendigkeit zur Offenbarung meines Gewissens... Aber wie auch immer, ihr sucht mein Blut nicht so sehr wegen dieses Supremats, sondern deshalb, weil ich die Ehe nicht billigen wollte."
Morus hat im Gefängnis stark gelitten und mußte mit Todesängsten kämpfen. Er und seine Tochter Margaret wurden am 4. Mai 1535 Zeugen, wie Mönche des Karthäuserklosters, die als Verräter verurteilt waren, gehängt und verstümmelt wurden. Morus sagte zu seiner Tochter: "Siehst du nicht, Meg, daß diese heiligen Priester heiter ihrem Tod entgegen gehen wie ein Bräutigam zu seiner Hochzeit?"
Morus behandelt das Problem der Angst vor Tod und Folter in seinen Gefängnisschriften, besonders in A Dialogue of Comfort Against Tribulation, worin er das Problem auf eine universelle Ebene hebt und die Bedeutung des Leids für die Menschheit untersucht.
Als Morus dem Tod ins Auge sah, tat er dies mit dem für ihn charakteristischen Selbstbewußtsein und Humor, den er Zeit seines Lebens an den Tag gelegt hatte. Sein guter Freund Sir Thomas Pope wurde zu ihm in den Tower geschickt, um ihn darüber zu informieren, daß er am nächsten Tag hingerichtet werden würde. Roper berichtet über diese Szene:
"Master Pope', sagte er, ,ich danke Euch sehr herzlich für Eure gute Nachricht. Ich bin Seiner Königlichen Hoheit immer zu Dank verpflichtet gewesen wegen der Überfülle der Wohltaten und Ehrungen, mit denen er mich immer wieder gütigst überhäuft hat. Aber noch dankbarer bin ich Seiner Gnaden, daß er diesen Ort für mich bestimmt hat, wo ich Zeit und Muße hatte, das Ende meines Lebens zu bedenken. Und so wahr mir Gott helfe, Master Pope, am allerdankbarsten bin ich Seiner Hoheit, daß er geruht, mich so unverzüglich von der Trübsal dieser elenden Welt zu befreien. Und darum werde ich ohne Unterlaß inbrünstig für Seine Gnaden beten, in dieser und auch in der anderen Welt.'
"`Der König wünscht ferner´, sagte Master Pope, `daß Ihr vor Eurer Hinrichtung nicht viele Worte macht.´"
Morus erwidert, er wolle diesem Wunsch entsprechen, und dankte dem König, daß dieser zugestimmt habe, daß seine Tochter seiner Beisetzung beiwohnen dürfe.
Als Morus vom Kommandanten des Tower zur Hinrichtungsstätte geführt wurde, konnte er sich aus Schwäche kaum auf den Beinen halten. Er sagte scherzhaft zum Kommandanten: "Helft mir bitte beim Hinaufsteigen, Master Kommandant, für mein Herunterkommen laßt mich selber sorgen." Dann wandte er sich an den Scharfrichter und sagte mit heiterer Miene zu ihm: "Nur Mut, guter Mann, geh ohne Scheu ans Werk! Mein Hals ist sehr kurz. Gib darum acht, daß du nicht verkehrt zuschlägst. Denk an deine Ehre."
Wer war nun der "Sieger" in dem Streit um Heinrichs "Große Sache"? Sicherlich nicht Heinrich und dessen Tochter Elisabeth, unter deren Herrschaft das von Heinrich VII. begründete Tudor-Ideal niederging und endete. Sicherlich auch nicht Anna Boleyn, die später wegen Ehebruchs hingerichtet wurde. Auch die Christenheit nicht, denn sie wurde jahrhundertelang in einen unnötigen Konflikt verstrickt, aus dem sie sich selbst heute noch nicht ganz befreit hat.
Heinrich VIII. war eine tragische Figur, denn er besaß das Potential, ein großer König zu sein, so daß Morus und Erasmus große Hoffnungen in ihn setzten, ließ sich aber statt dessen durch Intrigen manipulieren und wurde zum ruchlosen Tyrannen.
Der Sieger war Sir Thomas Morus, der 1935 zum Heiligen erhoben wurde. Morus steht in der Tradition jener wenigen herausragenden Persönlichkeiten der Geschichte -- wie Sokrates (mit dem er oft verglichen wurde) und Johanna von Orleans --, die der Menschheit zu neuem Leben verhelfen, indem sie durch beispielhafte Taten zeigen, welch große Macht die Wahrheitsliebe ist. Morus verkörpert eine Erhabenheit, die sich in jedem Wort und jeder Tat über die belanglose Welt der politischen Intrige und der persönlichen Interessen erhebt, um den Kampf für das Gemeinwohl anzuführen, für eine Gesellschaft, die sich auf die Verpflichtung zu Liebe und Wahrheit gründet.
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