August 2003:
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Von der Weimarer Republik zur Nazidiktatur

Robert Becker
Robert Becker, heute 87 Jahre alt, schildert im Gespräch mit Angelika Steinschulte und Gabriele Liebig, wie ein Jugendlicher im sozialdemokratischen Offenbach die Jahre bis zu Hitlers Machtergreifung erlebte.



Am 25. August 2003 besuchten meine Kollegin Angelika Steinschulte und ich unseren alten Freund Robert Becker in Bad Vilbel, um mit ihm über die Vorgeschichte des Hitler-Faschismus in Deutschland zu sprechen, über jene entscheidenden Jahre, etwa vom Rücktritt der Regierung Müller 1930 an bis zu Hitlers Machtergreifung 1933 und der Zementierung der totalen Diktatur nach Hindenburgs Tod 1934.

Es ist nicht das erste Mal, daß wir Robert Becker als verläßlichen Zeitzeugen zu Rate ziehen, denn sein hervorragendes Gedächtnis stützt bis heute ein reichhaltiges historisches Archiv. Aber nicht von unserem heutigen Informationsstand aus will er die Vorgänge dieser Jahre schildern, sondern so, wie er sie damals erlebt hat:

Becker: Man kann sich kaum vorstellen, wie wenig Informationen wir damals überhaupt erhielten. Und trotzdem kommen immer wieder Leute, die so tun, als hätten wir schon beim Hitlerputsch in München 1923 voraussehen sollen, daß auf der Wannsee-Konferenz 1942 der Holocaust beschlossen werden würde. Ich halte nichts davon, wenn man heute über die damals Lebenden herzieht und sagt: "Hättet ihr...!", "Wenn ihr...!" und so weiter. Es gibt da einen Spruch: "Der Wennich und der Hättich is ahner wie der anner. Der Habich, das is n' Kerl."

Becker: 1930 war ich 14 Jahre alt. Wir wohnten neben der Fahrradfabrik Frischauf. Sie gehörte dem Arbeiterradfahrerbund Solidarität, einem riesigen Verein, der schon 1921 200 000 Mitglieder und 1933 400 000 Mitglieder hatte. In diesen sozialdemokratischen Verein bin ich hineingeboren. Der Arbeiterradfahrerbund hatte 1914 drei große Wohnhäuser am Waldrand gebaut, einen Kilometer von der Stadt entfernt, neben der Fabrik. Es waren die modernsten Häuser weit und breit, mit Bad, Gasbadeofen, fließend warmem Wasser, getrennter Toilette, einem wunderbaren Kachelofen im Wohnzimmer und einer Wohnküche - ganz doll. Gärten waren auch dabei, Schrebergärten. Dort bin ich 1916 geboren, als mein Vater in Galizien im Krieg war.

Das Foto stammt aus einem Buch, das die Volkshochschule herausgebracht hat. Unser Haus wird darin als rotes Zentrum von Offenbach beschrieben, der Arbeiterradfahrerbund Solidarität sei eine Hochburg von USPD-Leuten, Sozialisten und Kommunisten gewesen. Das ist überhaupt nicht wahr. Zwar wohnte hier im ersten Stock des Hauses 220 die kommunistische Stadtverordnete "Oma" Ortlepp und im Parterre von Nr. 224 ihre Tochter Franziska Boll, ebenfalls kommunistische Stadtverordnete, mit Familie, aber die wohnten nur da. Im Arbeiterradfahrerbund Solidarität waren alle SPD, Kommunisten durften gar nicht Mitglied werden. Und sie wollten das auch gar nicht, weil sie die SPD ja für "Sozialfaschisten" hielten. Zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten herrschte Feindschaft. Trotzdem wird der Arbeiterradfahrerbund Solidarität heute eine "kommunistische Hochburg" genannt; so wird heute die Historie deformiert.

Becker: Nein, mein Vater war Sattler und arbeitete in Offenbach. Offenbach war das europäische Zentrum der Lederwarenherstellung, ist es in gewisser Weise heute noch. Die größte Firma, der "Goldpfeil" - Ludwig Krumm gründete die Firma in der Kaiserstraße - hat heute ihren internationalen Sitz in Hongkong. Aber in Offenbach beschäftigt die Firma Goldpfeil noch hundert Fachleute, damit man sagen kann: Offenbacher Lederwaren.

Mein Vater war 25 Jahre bei der Lederwarenfirma Friedrich Stein in der Ludwigstraße beschäftigt. Friedrich Stein war Jude und sehr beliebt, denn er war ein wirklich guter Mann und sorgte für seine Leute. 1926 starb er, und seine Nachfolger, die Mühlfelders, waren weniger vorbildliche Arbeitgeber. Der Meister in der Firma Stein hieß Vogt. Er war Vorsitzender des Zither- und Mandolinenklubs, zugleich Hundertschaftsführer im Reichsbanner, und überhaupt ein tüchtiger Mann.

Solche Vereine wie der Zither- und Mandolinenklub waren sozialdemokratische Gruppierungen und prägten das gesellige Leben der Stadt. Es gab den Volkschor in Offenbach, den der Lehrer Simrock leitete. In dem Chor sang meine Mutter und auch die Frau Sachs. Der Mann der Frau Sachs war Chauffeur und fuhr den Wagen der Fahrradfabrik des Arbeiterradfahrerbundes. Mit diesem Wagen der Fabrik wurden bei Wahlen, z.B. der Reichspräsidentenwahl 1925, die da draußen wohnenden Wähler zum Wahllokal im humanistischen Gymnasium gefahren. Da durfte ich schon als Junge immer mitfahren. Mein Vater hat mich überall mitgenommen, auch ins Völkerkundemuseum, ins Senckenbergmuseum, ins historische Museum, ins Ledermuseum...

Becker: Wie alle anderen im Arbeiterradfahrerbund war mein Vater Sozialdemokrat. Heinrich Niemann, der ewige Vorsitzende des Arbeiterradfahrerbundes, war mit unserer Familie befreundet. Er war Stadtverordneter und zählte schon zur Kategorie "Bonze". Ein Bonze ist ja eigentlich ein buddhistischer Mönch. Der Begriff wurde aber benutzt für Funktionäre, für jemanden, der etwas "Besseres" war. Es war im Grunde ein Schimpfwort.

Meine Mutter hat dem Herrn Niemann immer die Haare geschnitten und seiner Frau die Haare gemacht. Die Frau Niemann hat mir mein erstes Fahrrad geschenkt. Und 1933, als es dann losging mit plötzlichen Hausdurchsuchungen, Bücherverbrennungen und all dem, haben wir die ganze Bibliothek des Vorsitzenden Niemann abgeholt und bei uns versteckt. Ich habe sie heute noch. Es waren viele marxistische Bücher dabei, Karl Marx' Das Kapital, August Bebel usw., aber auch Bücher der Büchergilde Gutenberg der Gewerkschaften oder satirische Schriften wie der Kladderadatsch.

Becker: Zunächst einmal: Mein Vater besaß eine eigene Bibliothek, was für einen Handwerker eine Ausnahme war. Wir hatten Shakespeares sämtliche dramatische Werke. Ein Band hier, in Leder, ist stellenweise ganz verblaßt. Mein Vater hat mir erzählt: "Das war Seewasser." Die drei Bücher hatte er als "Ökonomie-Handwerker" im Regierungsauftrag zur deutschen Schutztruppe nach Südwestafrika mitgenommen. Während der Fahrt - die dauerte mit der Woermann-Linie 3 Wochen - las er immer auf dem Deck, und so kam Seewasser drauf.

Und hier haben wir eine ganze Reihe Bücher: Immanuel Kants sämtliche Werke - alle von Reclam, 1890. Theodor Körners sämtliche Werke. Körner hat Dramen, Lustspiele, Gedichte und Erzählungen geschrieben. Mit 21 Jahren ist er im Krieg gegen Napoleon gefallen. Körner war bei den Lützower Jägern. Auch Wilhelm Hauff ist schon mit 25 Jahren gestorben, und war so ein großer Dichter. Das war es, was wir gelesen haben - und auch Onkel Toms Hütte oder Bulwer Die letzten Tage von Pompeji.

In der Schule war Schiller ein ausgesprochener Schwerpunkt. Bei unserem Lehrer haben wir viel gelernt. Wir haben ihm unsere Hefte mit den Hausaufgaben in die Wohnung geschleppt, und er hat bis in die Nacht korrigiert - jedes Heft. Überall hat er hineingeschrieben, was besser werden muß. Sein ganzes Anliegen war, uns Wissen beizubringen. Ein ganzes Jahr lang wurde Wilhelm Tell gelesen. Wir mußten Hefte führen mit Zitaten aus Wilhelm Tell und sie auswendig lernen: "Vom sicheren Port läßt sich's gemächlich raten!" Das waren Zitate, die können Sie ihr Leben lang brauchen. Als im Alter von 14 Jahren die ersten abgingen, haben wir bei der Entlassungsfeier Teile aus Wilhelm Tell aufgeführt.

Balladen haben wir auch gelernt, Die Glocke von vorne bis hinten auswendig. Und dann kamen wir zu Goethe, Hermann und Dorothea: "Hab ich den Markt und die Straßen noch nie so einsam gesehen, ist doch die Stadt wie ausgestorben. Nicht 50 deucht mir blieben zurück von all unsren Bewohnern...", das habe ich heute noch im Kopf. Oder eine andere Stelle: "Alle wollen den Zug der Vertriebenen sehen" - das waren die Hugenotten. Das war so interessant, daß ich es bis heute nicht vergessen habe.

Es gab - neben der Volksschule mit Lehrmittelfreiheit - Gymnasien, Realschulen und Oberrealschulen. Mädchen und Jungs wurden getrennt erzogen. So war es jedenfalls im "Volksstaat Hessen", wie das Bundesland verfassungsgemäß hieß. Der Volksstaat Hessen war immer sozialdemokratisch geführt. Der erste Staatspräsident hieß Carl Ulrich (nach dem die Brücke von Offenbach nach Frankfurt herüber benannt ist), und nach Ulrichs Tod war Adelung Staatspräsident, ebenfalls ein Sozialdemokrat.

Ich erinnere mich noch an den Verfassungstag am 11. August 1929 - zehn Jahre Verfassung der Weimarer Republik. Es gab Aufmärsche des Reichsbanners im ganzen Reich. In Hessen war schulfrei. In Offenbach gingen alle Klassen auf die Rosenhöhe, wo die großen Sportplätze sind. Dort gab es Jubel, Trubel, Spiele und Veranstaltungen - alles zu Ehren der Verfassung. Nicht nur bekam jeder eine Brezel, sondern auch einen Sonderdruck der republikanischen Reichsverfassung und der hessischen Verfassung vom Dezember 1919.

Ich hätte in die Oberrealschule gehen können oder aufs Gymnasium - mit einer Freistelle. Aber der Rektor der Bachschule, der Stadtverordnetenvorsteher der SPD war, riet meinem Vater von einer Freistelle ab: "Dann hat der Junge nicht die finanziellen Mittel, um mit den anderen Ausflüge zu machen oder sonst mithalten zu können, und das bedrückt ihn dann. Geben Sie ihn lieber nach dem 4. Schuljahr in die E-Klasse." Man hatte in Hessen E-Klassen eingerichtet: Klassen mit erweiterten Lehrzielen, deswegen E. Da lernte man Englisch und Französisch wie in der Oberrealschule, außerdem Buchhaltung, Stenographie. Die E-Klassen wurden von ausgesuchten Lehrern unterrichtet. Nach der 8. Klasse konnte man weitergehen zur Mittleren Reife.

In diesem Fall zahlte der Volksstaat Hessen den Eltern der E-Klassenschüler 200 Mark im Jahr als Ausgleich, weil sie andernfalls, als Lehrlinge, ja bereits zum Familieneinkommen beigetragen hätten. Ein Lehrling in der Metallindustrie verdiente etwa 4 Mark die Woche. Ich bekam als kaufmännischer Lehrling später im ersten Lehrjahr 20,20 Mark im Monat, im zweiten 40,40 Mark und im dritten 90,90 Mark. Die in der Metallindustrie bekamen weniger, und die Sattler und Polsterer noch weniger.

Ich ging also in die E-Klasse, das war im 9. und 10. Schuljahr in der Goetheschule. Von ganz Offenbach waren wir im 9. und 10. Schuljahr neun Jungs und 23 Mädchen, weil viele Jungs schon arbeiten und Geld nach Hause bringen mußten. Wir neun Buben waren vom Elternhaus her fast alle "links" ausgerichtet. Nur einer, der Erwin Berg, war immer still; dessen Familie waren Nazis.

Becker: Auf den Schlag. Trotzdem hat man es nicht für die entscheidende Wende gehalten, weil es immer viele Kämpfe gab. So waren die SA und SS schon mal verboten gewesen - unter Brüning und seinem Innenminister General Gröner. Unter anderem deswegen wurde der Brüning dann weggeschossen, damit die SA unter Papen wieder zugelassen werden konnte. Dann ging es mit dem "Preußenschlag" weiter, die sozialdemokratische preußische Regierung wurde entmachtet. Aber als Hitler Reichskanzler wurde, hielt man das keineswegs für den endgültigen Sieg der Nazis. Das Reichsbanner ist auch nach Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 noch marschiert. Am 18. Februar 1933 gab es in Berlin noch eine riesige Großkundgebung der Eisernen Front mit Hundertausenden von Teilnehmern.

Wenig später zu Ostern wurden wir mit der Mittleren Reife entlassen. Da war Hitler schon an der Regierung und die SA zum Teil Hilfspolizei. Damit hatte Hitler ein Gegengewicht zur Reichswehr. Aber Angst hatten wir nicht. Wir dachten: "Es ist ein Kampf, das schlägt auch wieder um, wir haben ja eine Verfassung und ein Reichsgericht." Und der dumme SPD-Vorsitzende Otto Wels sagte: "Es muß alles demokratisch zugehen, die Nazis sind jetzt nun mal gewählt, und wir müssen uns demokratisch auseinandersetzen." Ich weiß nicht, ob sie aus Feigheit oder Dummheit so geredet haben.

In der Goetheschule bei unserer Entlassungsfeier Ostern 1933 sang der Mädchenchor vom Lehrer Simrock das Deutschlandlied - und die Lehrer machten den Hitlergruß. Der Saal war voll. Wir neun Jungs standen ganz hinten. Wir hatten uns verabredet, alle rote Schlipse umzubinden. Nur der Erwin Berg hat natürlich nicht mitgemacht, den haben wir auch in Ruhe gelassen, und der Heinz Böken, ein hundertprozentiger Katholik vom Zentrum, war voll mit uns dabei. Das Zentrum war die stabilste Partei der gesamten Weimarer Republik, die 1920 genauso viele Wähler hatte wie 1933. Die sind immer direkt nach dem sonntäglichen Hirtenbrief wählen gegangen.

Da standen wir also mit unseren roten Schlipsen. Mit einem Mal marschiert ein Hitlerjugend-Sturmtrupp hinter uns auf, unter Führung des Hitlerjugend-Führers Schwärzel. Dessen Vater war der Postdirektor von Offenbach. Die standen nun alle in Uniform hinter uns, als gerade das Absingen des Deutschlandliedes begonnen hatte. Und vor uns hoben alle den Arm zum Hitlergruß. Wir haben natürlich nicht mitgemacht. Die Bande hinter uns stieß uns dauernd in die Rippen - wir waren neun Männeken und hinter uns der ganze Hitlerjugendsturm. Der Hermann Deidrich rannte nach vorn zu unserem Lehrer. Der Lehrer kam und konnte den Sturmtrupp dazu bewegen, mit den Rippenstößen aufzuhören.

Der betreffende Hitlerjugend-Führer war zuvor auf dieser Schule in einer E-Klasse gewesen, aber ein Jahr zuvor wegen sexueller Delikte von der Schule geflogen. Er hatte mit der Ruth W. aus meiner Klasse nicht nur Gott weiß was für ein Gebutscher gehabt; die beiden hatten zudem ein Tagebuch geführt über Details. Dieses Tagebuch haben sie in der Schule verloren, und unsere Französischlehrerin, eine 55jährige Jungfrau, hat es gefunden. Da war ein Zirkus los, mit dem Ergebnis, daß beide aus der Schule flogen. Und nun war er der Hitlerjugend-Führer, der hinter uns stand. Jetzt war er der Herr, auch über die Lehrer, die ihn hinausgeworfen hatten.

Sobald die Feier vorbei war, flüchteten wir die große Treppe hinunter, denn es war klar, daß sie versuchen würden, uns zu schnappen. Wir sind hinten über eine zwei Meter hohe Mauer entkommen. Auf der anderen Seite war das Arbeitsamt, zuständig für Hunderttausende von Arbeitslosen. Die Beamten dort hatten Vollbeschäftigung. Da sind wir 'reingesaust, in den zweiten Stock zum Beamten Schneider, den wir kannten. Er war der Vater von einer Schulkameradin, der Liesl Schneider. Wir sagten: "Wir müssen uns verstecken." Und er sagte: "Bleibt einfach zwei Stunden hier."

Ab 1. April 1933 begann mein Lehrvertrag als kaufmännischer Lehrling. In Offenbach riß man sich um die Buben und Mädchen, die von der Schule kamen. Wir waren allen Oberrealschülern überlegen. Wir waren sozusagen eine Elite, und die Lehrer ebenfalls.

Ich war Lehrling bei der Firma Heinrich Conte, die in alle Welt die feinsten Lederwaren exportierte - alles Handnaht, mit zwei Nadeln. Aber die Firma bekam schon immer weniger Aufträge. Sie lebte von der feinsten Kundschaft, etwa das Lederwarengeschäft Josef Hosterbach in Düsseldorf, wo die Schlotbarone kauften. Für die Enkel der Frau Henkel haben wir die feinsten Koffer geliefert: sechs Pythonschlangenkoffer mit Silbergarnituren darin. Ich habe selbst damals die Rechnung geschrieben: Ein Koffer kostete 600 Mark, Einkaufspreis. Der Josef Hosterbach hat dann das Doppelte oder mehr genommen. Die Firma, wo mein Vater arbeitete, hatte auch so vornehme Kunden. Sie schickten ihre eigenen Silbergarnituren mit ihrem Wappen darauf, und passend dazu wurden dann Krokodilkoffer mit Hornback hergestellt. Keiner weiß heute, was Hornback ist: Es sind die Rippen vom Krokodil. Aber überall gingen nun die Aufträge zurück. Und mein Vater wurde auch arbeitslos.

Becker: Alle. Von der Klasse war das gar kein Problem, die wurden gesucht. Aber mein Vater war dann arbeitslos. Von der Firma Stein war kaum noch etwas übrig. Die Chefs sind emigriert nach Holland. Aber mein Vater hatte ja Erfindungen gemacht: nahtlose Lederwaren. Er fertigte z.B. Etuis für Rasierapparate und Toilettenetuis. Sein alter Freund, der Sattler Wilhelm Müller im Rodgaugebiet in Jügesheim, eröffnete damals einen eigenen Laden für Sattlerwaren, Tapezieren und Polstern. Über diesen Sattler Müller, der noch eine Firma hatte, hat mein Vater dann Etuis hergestellt - geheim. Mein Vater stand in Verbindung mit der jüdischen Firma Zorlig in Frankfurt. Bei Zorlig wurden die Metallsachen, also Rasierapparate, Klingen usw. hergestellt, die Etuis damit bestückt und massenhaft exportiert. Das Geschäft lief zum Glück gut.

1930 verschärfte sich die Wirtschaftskrise. Die Parolen auf Plakaten und Flugblättern wurden immer deftiger. Und die Sozialdemokratie war defensiv. Man wehrte sich immer nur gegen Anschuldigungen, die von anderen erhoben wurden - immer sachlich, in Form einer ausführlichen "wissenschaftlichen" Arbeit. Da war etwa der Vorwurf gegen die "Novemberverbrecher": Das war die "Dolchstoßlegende", wonach Friedrich Ebert und der Munitionsstreik angeblich dafür verantwortlich waren, daß Deutschland den Ersten Weltkrieg verlor. 1931 fand z.B. eine große Gedenkfeier zum 60jährigen Jubiläum der Reichsgründung 1871 im Spiegelsaal von Versailles statt. Das feierten die Nationalen zusammen mit den Reichsdeutschen, den Nazis und den Schwarzweißroten, während die Sozialdemokraten als "vaterlandslose Gesellen" verschrien wurden.

Dagegen haben die Sozialdemokraten sich mit dem Argument verwahrt, daß ohne sie das Reich gar nicht mehr existieren würde: 1918 waren doch alle anderen abgetaucht, und die Sozialdemokraten haben den Kopf hingehalten. All dies wurde mit ungeheurer Sachlichkeit begründet. Und diese nüchterne Sachlichkeit hatte auch Nachteile. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung 1931/32 mit dem ehemaligen Arbeitsminister Rudolf Wissel. Als Minister des Kabinetts von Reichskanzler Müller war Wissel damals ausschlaggebend für den Sturz der Regierung Müller. Auslöser war der Streit um ein halbes Prozent bei der Arbeitslosenversicherung, schließlich um ein Viertelprozent. Brüning, damals Fraktionsvorsitzender des Zentrums, war noch zu einen Kompromiß bereit, aber Wissel nicht. Das war der Umbruch.

1932 sprach Wissel, mit seinem beeindruckenden Vollbart, im Gewerkschaftshaus im großen Saalbau in der Austraße 9, dem größten Saal in Offenbach. Das Reichsbanner marschierte hin, es gab einen Trommlerchor mit Querflöte und Waldhörnern, und vorneweg der Tambourmajor Philipp Held, ein Mann von beeindruckender Statur. Der Saal war proppevoll, auch die Galerie voller Menschen. Nun betrat Wissel den Saalbau und wurde begeistert empfangen. Und dann hielt er einen Vortrag à la Riester, den keiner verstanden hat. Die Leute wollten eigentlich mobilisiert werden und haben nach dieser allzu sachlichen Rede ziemlich bedrückt den Saal verlassen.

Die Nazi machten es ganz anders, die sagten einfach: "Schuld an allem sind die Novemberverbrecher und die Plutokraten, die haben uns kaputt gemacht." Die Nazis hielten keine marxistischen Vorträge über Kapital oder soziale Fragen, sondern mobilisierten die Leute mit ihren plumpen Schlagworten. Und wenn jemand dagegen war, gab es Saalschlachten.

Aber geschlagen oder totgeschlagen wurde nur bei Versammlungen oder bei Straßendemonstrationen. Vorm Arbeitsamt hingegen standen die Arbeitslosen alle friedlich schlange, ob es nun Kommunisten, Nazis, Sozialdemokraten oder Katholiken waren. Sie gingen alle jede Woche zum Stempeln, denn jede Woche mußten die paar Mark Arbeitslosengeld abgeholt werden. Und beim Warten wurde diskutiert. Da ging es nicht nur um Arbeit, auch um "ostelbische Junker", "Bonzen", "Schlotbarone" und um "Doppelverdiener" - ein Schimpfwort, wenn beide Ehepartner Arbeit hatten. Da ging es um "Coupon-Schneider", das waren die Börsenspekulanten; darüber kann man heute kräftig lachen, wenn auf allen Fernsehkanälen und in den simpelsten Zeitungen die Börsengurus predigen, daß am besten jeder sein Geld als ,Coupon-Schneider' verdienen soll.

Becker: Schlimm. Viele hungerten. Dieser Vers stammt aus einer Broschüre des Bücherkreises:

"Wenn ein Arbeitsloser Hunger hat, guckt er sich an seiner Stempelkarte satt, denn die Stempelkarte sagt ihm glatt, daß er nach bezahlter Unterstützung, keinen Anspruch mehr auf Hunger hat."

Mein Vater hatte es ganz gut hingekriegt, wie kamen ganz gut durch die Zeit der Arbeitslosigkeit. Aber mein Onkel Rudolf und seine vierköpfige Familie hatten es schwer. Trotzdem hat er sich politisch eingesetzt, und ich bin manchmal mit ihm gegangen. 1932 vor der Novemberwahl zogen wir von Tür zu Tür mit dem Abzeichen der Eisernen Front (drei aufwärts gerichtete Pfeile) und haben gesagt: "Hitler bedeutet Krieg. Wir wollen keinen Krieg." Zu dieser Zeit lullte Hitler alle noch mit seinen Friedenssprüchen ein, aber wir sagten: "Das muß ja Krieg geben!" Eine marxistische Weisung des geschichtlichen Fortgangs lautet: Konjunktur, Krise, Krieg. Nach dem Krieg wieder Konjunktur, Krise, Krieg. Und wenn man sich die Geschichte betrachtet - so ähnlich ist sie gelaufen.

Aber zurück zur Lage der Arbeitslosen. Es wurden Wärmehallen gebaut, wo die Arbeitslosen sich aufwärmen konnten. Die Leute besaßen keine richtigen Wintermäntel, so etwas konnten viele sich nicht mehr leisten. Es gab auch Notküchen - Suppenküchen. Andere sind aus Not "Hofsänger" geworden. Sie zogen von Hinterhof zu Hinterhof und sangen. Es gab auch Trios mit Geige und Mandoline. Die Hausbewohner warfen ihnen, eingewickelt in Papier, fünf Pfennige oder gar zehn aus dem Fenster herunter. Wer nicht singen konnte, krächzte eben, das war egal. Sie bekamen einen Pfennig heruntergeworfen. Manche Leute schmierten belegte Brote, die Kinder brachten sie dann den Hofsängern. Bestimmt die Hälfte der Hofsänger sang immer wieder ein Lied: das Lied von Stenka Rasin, dem russischen Revolutionär und Kosakenführer, der am 6. Juni 1671 in Moskau hingerichtet wurde. Die Hofsänger dichteten das Lied für ihre Belange um. Der Schlußrefrain war immer: "Gib mir noch ein Stückchen Brot!"

Andere Arbeitslose liefen mit einem Schild um den Hals herum, auf dem stand: "Nehme jede Arbeit an."

Frauen zählten damals noch nicht als Arbeitslose, weder als Arbeitslose noch als Rentenzahler. Aber die Mutter hat mir meine Hosen geschneidert, meine Hemden genäht, aus dem Garten möglichst viel herausgeholt - alles mit eigener Hand. Sie hatte eine volle Tätigkeit, war aber nur krankenversichert beim Ehemann und rentenversichert überhaupt nicht. Sie bekam lediglich 60% Witwenrente. Und das war schon ein Fortschritt gegenüber der Kaiserzeit. Auch das Frauenwahlrecht war schon ein Riesenfortschritt. In der Kaiserzeit herrschte ja noch das Dreiklassenwahlrecht, das sich nach dem Einkommen richtete. Und die Frauen hatten ja kein Einkommen. Wenn die Familie spazieren ging, ging der Mann voran und die Frau mit dem Kinderwagen zehn Meter hinterher - bei der "gehobenen" Gesellschaft.

Becker: Bei den Sattlern lag der Arbeitstarif bei 48 Mark die Woche. Um Lebensmittel möglichst günstig zu bekommen, waren wir alle im Konsumverein. Die Konsumvereine gab es schon seit Kaisers Zeiten, mit eigenen Lebensmittelläden überall und eigenen Getreidemühlen. Die Zentrale der GEG Genossenschaft war in Hamburg. Die Konsumvereine betrieben auch eigene Erholungsheime für Kinder. Becker: Die Führung bestand nur aus Sozialdemokraten. Es waren diese Einrichtungen, die in der Gegenwart als Coop kaputtgingen. Sie schlossen sich dem Großkapitalismus an und gingen zu Grunde.

In den Läden der Konsumvereine wurde nur an Genossenschaftsmitglieder verkauft. Wir bekamen bei jedem Einkauf einen Einkaufszettel. Einmal im Jahr wurde abgerechnet. In unserer Familie war das immer meine Aufgabe. 800 Mark haben wir das ganze Jahr über für sämtliche Lebensmittel ausgegeben. Darauf bekam man dann 3% Rabatt, bei der GEG in Hamburg sogar 5%. Das war das Genossenschaftswesen, das den ganzen Konsumbereich erfaßte.

Becker: Bestimmt sind Menschen an Unterernährung gestorben. Meine Schwester war einmal in den Schulferien in einem Kindererholungsheim der GEG in Weilmünster. Sie sagt heute noch: "Das war meine schönste Zeit." Der Erfolg der Kindererholung, wurde daran gemessen, wieviel sie zugenommen hatten! Heute fahren Leute in Kur, um abzunehmen. Becker: Am 18. Februar fand die Großkundgebung des Reichsbanners und der Eisernen Front in Berlin statt. Und das Reichsbanner hielt dort seine Bundesgeneralversammlung ab. Die Eiserne Front wollte an diesem Tag auch eine Wehrübung machen, aber die wurde verboten. In der Eisernen Front waren die Gewerkschaften und Arbeitersportvereine, die Volkschöre, der Zither- und Mandolinenclub und all diese Vereine zusammengeschlossen. Das Reichsbanner bildete den Kern der Eisernen Front. Beide zusammen hatten etwa 3,5 Mio. Mitglieder.

Das Reichsbanner hatte außer den Millionen aktiver Mitglieder eine auf 400 000 Mann angewachsene Elitetruppe. Diese wurden dem preußischen SPD-Innenminister Severing angeboten, um daraus 200 000 Polizeihilfskräfte zu machen. Und der Idiot hat das nicht gemacht! Preußen war mit 61% des Territoriums der größte Staat im deutschen Reich. Severing war gegen irgendeine Formation außer der Polizei und behauptete, dafür sei kein Geld da. Nachher hat Hitler dann Teile der SA zur Hilfspolizei gemacht. Das war sein erstes Machtinstrument.

Wenn man heute betrachtet, was auf der Bundesgeneralversammlung des Reichsbanners am 18. Februar 1933 diskutiert und an Anträgen gestellt wurde, lacht man sich krank. Deutschland erlebt den Absturz in die faschistische Diktatur, und die Bundesgeneralversammlung der größten antinazistischen Organisation diskutiert seelenruhig, als wenn nichts wäre, über ein neues Design für die Beitragsmarken. Den betreffenden Antrag stellte mein Freund Christian Weiß, damals "Reichsbannergeneral" von Frankfurt genannt.

Ich will damit beleuchten, welcher Mangel an Durchblick damals herrschte. Man dachte: Gut, der Hitler ist jetzt dran, aber wir kämpfen ja weiter. Der SPD-Vorsitzende Otto Wels hielt auf der Großkundgebung der Eisernen Front am 18. Februar 1933 in Berlin im Lustgarten eine begeisterte Rede. Am Schluß seiner Rede zitierte er Schiller: "Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, vor dem freien Menschen erzittert nicht! " Und weiter: "In Zeiten größter Not rufen wir allen Widersachern entgegen: Lewwer düd as Slav. Lieber tot als Sklave." Und zehn Tage später ist Wels abgehauen aus Deutschland. Erst Tausende, Hunderttausende zum Widerstand aufrufen, und dann selber abhauen!

Ohne Führung ging nichts mehr, und die Reichsbannerleute waren nun ohne Führung. Sie haben Einzelaktionen gemacht, Hakenkreuze von Dächern heruntergeholt und solche Sachen. So mancher ist dabei erwischt worden.

Becker: Ja. Als über das Ermächtigungsgesetz abgestimmt wurde, saßen zwanzig sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und alle Abgeordneten der Kommunisten bereits in Haft oder waren geflohen. Da wurde der SPD-Reichstagsabgeordnete Högner - gleichzeitig auch ein führender Mann des Reichsbanners - ausgeschickt, um den Wels zurückzuholen. Und er hat ihn zurückgeholt. Worauf Wels im Reichstag seine "tapfere Rede" vor der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz hielt, die aber so tapfer gar nicht war. Denn Wels sprach sich zwar gegen das Ermächtigungsgesetz aus, bot Hitler aber in derselben Rede die Loyalität der sozialdemokratischen Fraktion an.

Anschließend stimmten nicht bloß die Rechten, sondern auch das Zentrum und die fünf Liberalen (die nur 0,8% bei den Wahlen bekommen hatten) für das Ermächtigungsgesetz. Und dann ereignete sich eine Geschichte, die ich gelesen habe, die aber wahrscheinlich auch stimmt: Otto Wels habe befreundeten Zentrumsleuten hinterher gedankt, daß sie für das Gesetz gestimmt hätten, denn sonst "wären wir da nicht mehr lebendig herausgekommen". Bei der Abstimmung standen die SA-Leute im Reichstag ringsum an den Wänden, drohend und jederzeit bereit, Gewalt anzuwenden.

Becker: Ja - aber verstehen Sie: Wenn das Zentrum und die anderen Bürgerlichen auch dagegen gestimmt hätten, wäre das Gesetz gekippt worden. Die Nazis hätten Gewalt brauchen müssen, vielleicht wären Wels und seine Freunde aus dem Saal nicht mehr lebend herausgekommen, aber die scheinbar legale Machtergreifung der NSDAP wäre vereitelt worden. Becker: Ich war damals 17 Jahre. Für uns war das ein Brand, jemand hatte den Reichstag angesteckt. Interessant war dann der Prozeß, vor allem das Verhalten des angeklagten Kommunisten Dimitrow von der Komintern, der am Ende auch freigesprochen wurde. Dimitrow gelang es, Göring vor dem Reichsgericht zu einem Tobsuchtsanfall zu provozieren. Das weiß ich noch. Darüber haben wir uns sehr gefreut.

Viele Kommunisten sind dann zur SA übergelaufen. Das ist unglaublich, ganze Gruppen. Hans Werner Richter, der Gründer der "Gruppe 47", schildert, wie am 1. Mai 1933, "der Tag, an dem hysterische Massen zu Hunderttausenden auf das Tempelhofer Feld [in Berlin] hinauszogen in Kohorten, in langen Marschzügen... Und da sah ich sie, meine Genossen, meine Freunde von gestern, einmal sogar einen ganzen Zug der kommunistischen Jugend, nun im Braunhemd". Kurt Schumacher hat auch geschildert, wie er plötzlich einen ganzen Schalmeienchor der kommunistischen Rotfront bei der SA mitmarschieren sah.

Dann erfolgte der Marsch in die Diktatur, Schlag auf Schlag. In dem berühmten Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 ging es nicht in erster Linie um die Entlassung von Juden, sondern von allen Gegnern: Sozialdemokraten, Zentrumsleuten. Ein berühmtes Beispiel ist der jüdische SPD-Fraktionsvorsitzende Heilmann im preußischen Landtag, der später im KZ umgebracht wurde. In dem Erlaß stand ausdrücklich, Angehörige des Reichsbanners sollten entlassen werden, und Kommunisten, die sich der nationalen Front angeschlossen hatten, sollten nicht entlassen werden.

Die Zeitungen wurden gleichgeschaltet. Das Offenbacher Abendblatt war eine sozialdemokratische Zeitung, die seit 1875 bestand. Den Chefredakteur Kaul mit seinem langen Bart kannte ganz Offenbach. 1933 wurde das Abendblatt zuerst umgemodelt und war dann ganz weg. Die bürgerliche Offenbacher Zeitung bestand weiter. Am Aliceplatz waren am Schaufenster entlang alle Seiten der Zeitung ausgehängt, und die Menschen standen in Trauben davor, um sich zu informieren.

Die Frankfurter Zeitung, die Vorgängerin der FAZ, bestand weiter bis 1944. Goebbels ließ alle auslandsrelevanten Zeitungen fortbestehen, und die Redaktion paßte sich dem Regime an, machte "seriösen Journalismus", ein schönes Feuilleton und gab jede Woche eine lllustrierte heraus. Auch die Hauspostille der Liberalen Die Hilfe, gegründet von Erzvater Naumann, bestand weiter, zeitweise mit Theodor Heuß als Herausgeber, der sogar darin 1938 den "Anschluß" Österreichs akademisch, umständlich historisch als richtig begründete - in der Ausgabe mit dem Datum 5. März 1938, vier Tage vor Hitlers Einmarsch in Wien!

Alle Vereine, einer nach dem anderen, aber mit großer Schnelligkeit, wurden von den Nazis übernommen. Die Vereine wurden nicht verboten, sondern umgemodelt, bekamen einen neuen Vorstand, wie z.B. die freien Turner. Der Ruderclub Vorwärts wurde in Wiking umbenannt und ein anderer Vorstand eingesetzt. Blitzschnell geschah dasselbe mit anderen Vorständen, weil die meisten Angst hatten.

Der Offenbacher Fechtclub war ein berühmter Verein wegen der "blonden He", der Helene Mayer, die 1928 im Florettfechten in Amsterdam die Goldmedaille erfochten hatte. Sie war auch Weltmeisterin und das Aushängeschild der Stadt Offenbach. Ihr Vater war der bekannte jüdische Arzt Mayer in Offenbach. Helene Mayer wurde 1936 aus dem Ausland zurückgeholt, trat in Berlin bei der Olympiade an und holte die Silbermedaille. Bei der Siegerehrung - ich war auch dort als Zuschauer - hat sie mit "Heil Hitler" ihre Silbermedaille entgegengenommen. Diese Geschichte ging dann um die Welt: "Die Jüdin, die blonde He aus Offenbach, ist bei der Olympiade für Deutschland gestartet."

Was die Leute aber nicht wußten, daß Helene Mayer, weil nur ihr Vater, nicht ihre Mutter, Jude war, nach dem Rassengesetz von 1935 nur als Halbjüdin galt. Halbjuden wurden z.B. zum Wehr- und Arbeitsdienst eingezogen, wie z.B. mein Freund Fritz Levi, der mit mir 1936/37 im Arbeitsdienst war. Sein Bruder mußte bei der Reichswehr dienen. Der jüdische Vater war Arzt in Offenbach. Fritz emigrierte dann nach Indien.

Aber der jüdische Vorsitzende des Offenbacher Fechtclubs wurde einfach abgelöst von einem Nazi. Und die Familie Mayer der blonden He haben sie nicht ausgeschlossen, sondern einfach den Mitgliedsbeitrag nicht mehr kassiert.

Becker: Die Gewerkschaften wurden gleichgeschaltet, und ich war in der Gewerkschaft der Angestellten. Die Jugend sollte in die Hitlerjugend eintreten. Ich bekam also 1933 von der Hitlerjugend einen Wisch, ich solle ab Dienstag den soundsovielten zum Dienst in der Hitlerjugend antreten. Alle von der Gewerkschaft haben das bekommen. Ich dachte, die spinnen wohl, und bin nicht hingegangen. Dann bekam ich einen zweiten Wisch: Wenn ich nicht dann und dann anträte zum Dienst, hätte ich sämtliche Folgen zu tragen. Da bin ich zum Schaemmel gegangen, einem Sportsfreund, der Führer in der Hitlerjugend war, und habe ihm die Briefe gezeigt. Er sagte: "Gib mal her, dem tret ich in den Arsch." Danach habe ich nie mehr etwas gehört. Ich war nie in der Hitlerjugend, meine Schwester und ihre Freundin auch nicht. Aber ich mußte mich dann natürlich bescheiden. Ich wollte eigentlich Journalist werden, das ging nun nicht mehr. Andere meiner Jahrgänge sprangen gleich auf den Zug auf und gehören heute zu den angesehensten Prominenten! Becker: Ja. In Offenbach ist am 5. März 1933, am Tag der letzten Reichstagswahl, der Reichsbannerkamerad Christian Pless erschossen worden. Er war 22 Jahre alt. Am Bahnhof in Offenbach stieß ich auf eine aufgeregte Menge. Ich habe mehrere Versionen dieses Vorfalls gehört. Der SA-Mann Weismantel habe Pless in der Mittelseestraße mit der Pistole verfolgt und in einem Hausflur erschossen. Die andere Version: Der SA-Trupp sei auf dem Lastwagen vorbeigefahren und habe ihn mit einem Gewehr erschossen. Der SA-Schütze Weismantel wurde dann zur Belohnung städtischer Angestellter. Er ist aber später nach dem Krieg noch verurteilt worden.

Die Beerdigung des Kameraden Pless hat mich damals sehr mitgenommen und für immer geprägt. Schon ganz früh morgens bin ich auf den Friedhof gegangen, damit ich bei der Beerdigung vorne am Grab stehen konnte. 3000 Menschen kamen auf den Friedhof, und das kurz nach dem 5. März 1933.

Mein Freund Harry Wild aus der Gabelsberger Straße wurde eines Tages abgeholt und kam ins KZ nach Osthofen bei Worms. Kaum ein Mensch weiß, daß dort das erste Konzentrationslager war - selbst dort an Ort und Stelle nicht.

Becker: Die Leute sagten: "Hätt er doch das Maul gehalten, man weiß doch, daß man nichts sagen darf." Außerdem war Harry im Esperanto-Club, und der Esperanto-Club stand auf der schwarzen Liste. Immer wieder las man die Meldungen: "Der und der wurde abgeholt." Hunderttausende wurden so abgeholt. Man nannte das noch nicht Konzentrationslager, sondern es hieß: "Der kommt in Schutzhaft, damit ihm nichts passiert. Das ist ein Schlimmer, den schlagen sie sonst tot." Und die dann nach einem halben Jahr oder so zurückkamen, haben nichts erzählt - nichts. So hatte man es ihnen eingeschärft. "Die sind umgeschult worden", sagte man. "Die haben sie gründlich durchgewalkt." Es waren Hunderttausende, die 1933 eingesperrt wurden.

Einen anderen Satz las man immer wieder in der Zeitung: "... wurde abgeholt und auf der Flucht erschossen". Der war nicht geflohen, den hatten sie erschossen und dann berichtet: Er wollte fliehen, da haben wir ihn erschossen. Es war eine berühmte Redewendung "auf der Flucht erschossen". Ich nehme an, das haben die Nazis mit Absicht publiziert, um Schrecken zu verbreiten. Lenins Chef der Geheimpolizei Tscheka, Felix Dscherschinskij hat es auch so gemacht. Hunderttausende wurden umgebracht, und erst nachher wurde gefragt, ob das nun Gegner waren oder nicht. Auf diese Weise konnte Lenin mit seinen 10% Stimmenanteil in der Duma über den Soldatenrat das ganze Land beherrschen.

Mir selbst hat keiner etwas getan. Man durfte eben keine Ambitionen haben. Drei Monate vor meiner Einberufung 1938 bin ich noch nach Frankreich gefahren, wo ich eine kurzfristige Volontärstelle ausgemacht hatte. Es hat mich keiner daran gehindert, obwohl ich schon die Einberufung hatte. Begrenzt war nur die Devisenmitnahme, höchstens 10 RM durften mitgenommen werden. Aber dann ging es im November schnurstracks in die Gutleutkaserne in Frankfurt, ein Jahr vor dem verdammten Kriegsbeginn. Es kam also der 1. September 1939. Erst kamen wir nach Frankreich, dann nach Rußland, wie so viele andere. Über die vier Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft habe ich nach dem Krieg, gleich nach der Heimkehr 1949, einen Bericht geschrieben.*

Herr Becker, vielen Dank für dieses interessante Gespräch.


Anmerkung:

*) Dieser Bericht "Sowjetunion und Sozialismus" aus dem Jahre 1949 erschien als Serie in der Neuen Solidarität Nr. 18-24, 2001.


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