Mai 2003: |
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Offner Brief
Sehr geehrte Mitglieder der SPD und der Gewerkschaften,
die Regierungskrise, die aus dem von einigen SPD-Linken initiierten Mitgliederbegehren und Bundeskanzler Schröders potentiell tragischem Fehler in Form einer Vertrauensfrage auf dem Sonderparteitag am 1.Juni entstehen könnte, erfordert klares Nachdenken. Denn wer jetzt nur emotional reagiert, ohne alle Aspekte der hochkomplexen Lage, in der wir uns befinden, zu berücksichtigen, kann es womöglich noch so gut meinen und doch das Falsche tun.
Zunächst einmal: Der von mehreren Gewerkschaften unterstützte Versuch von Sigrid Skarpelis-Sperk, Rüdiger Veit und anderen SPD-Mitgliedern, die Aspekte von Schröders sogenannter Agenda 2010 zu verändern, die unerträgliche Härten für einen Teil der Bevölkerung bringen, ist im Prinzip richtig. Denn die Kürzungen im Gesundheitsbereich und bei der Arbeitslosenunterstützung, welche die Betroffenen in Armut zu stürzen drohen, zerstören ja das soziale System, das angeblich damit gerettet werden soll. Sie sind zutiefst ungerecht und wirtschaftspolitisch falsch. Das Problem ist aber, daß die Vorschläge, die Schröders Kritiker anbieten, das Problem nicht lösen und außerdem den größeren politischen Kontext übersehen, in dem die Regierung Schröder derzeit steht.
Denn dieselbe Kriegspartei in der Bush-Administration, die gerade den Völkerrecht verletzenden Krieg gegen den Irak geführt und weitere Kriege gegen sogenannte Schurkenstaaten angekündigt hat, ist wild entschlossen, gegen die Gegner dieses Krieges vorzugehen. Rumsfeld und Perle haben unverhohlen einen "Regimewechsel" in Berlin gefordert. Cheney, Rumsfeld, Rice, Perle und Powell haben soeben "Strafmaßnahmen" gegen die französische Regierung angekündigt, wobei u.a. vom Ausschluß Frankreichs von der Teilnahme an internationalen Gipfeltreffen die Rede war.
Wir haben also in Deutschland allen Grund, sorgsam mit Bundeskanzler Schröder umzugehen. Der Aufzug, den Angela Merkel vor kurzem in Washington geboten hat, dürfte dies dramatisch unterstrichen haben.
Schröder meinte zwar in seinem jüngsten Interview mit dem Spiegel, daß die politischen Führungen auf beiden Seiten professionell genug seien, um zu erkennen, daß die transatlantischen Beziehungen auf festen Grundwerten fußen. Schön wäre es. Das Problem ist nur, daß es zwei diametral entgegengesetzte Traditionen in Amerika gibt. Denn das Problem - nicht mit Amerika, sondern mit dieser US-Administration - besteht darin, daß die Mitglieder der sogenannten Kriegspartei, also Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz etc. einer neuen imperialen Ideologie anhängen, die aus einer Mischung der Vorstellungen von Bertrand Russell und H.G.Wells über ein anglo-amerikanisches Weltreich und dem philosophischen Faschismus von Leo Strauss besteht. Leo Strauss, der sich selber auf Nietzsche, Carl Schmitt und Heidegger bezieht und Mentor so gut wie aller Mitglieder der Kriegspartei war, vertrat u.a. die Idee, daß es völlig legitim sei, "edle Lügen" und "religiöse Täuschungen" einzusetzen, um die absolute Macht zu erringen oder zu behalten. Wenn man sich mit den Gedanken des Leo Strauss vertraut gemacht hat, versteht man viele Erklärungen von Mitgliedern der Bush-Administration viel besser.
Da Schröder und Chirac gemeinsam mit Putin und der überwältigenden Mehrheit der Staaten und der Weltbevölkerung diesen Krieg abgelehnt und das Völkerrecht verteidigt haben, haben sie absolut richtig und im Interesse ihrer Nationen gehandelt. Wenn aber Schröder jetzt auf die Kritik der Partei-Linken beim Sonderparteitag mit der Vertrauensfrage reagiert, in der Hoffnung 80 oder 90 Prozent der Teilnehmer von der Richtigkeit der Agenda 2010 überzeugen zu können, dann ist dies wirtschaftspolitisch falsch, sozial ungerecht - und politisch halsbrecherisch. Denn was ist, wenn er die 80 Prozent Zustimmung nicht erhält?
Wir befinden uns aber in der Endphase des Systemzusammenbruchs des globalen Weltfinanz- und Wirtschaftssystems, die nicht nur Parallelen mit der großen Depression der 30er Jahre aufweist, sondern in vieler Hinsicht viel dramatischer ist. Man denke nur an den Zustand Afrikas und Lateinamerikas.
Wie kommt es aber, daß die Regierungen Schröder und Chirac trotz ihrer Haltung gegen den Krieg wirtschaftspolitisch so völlig daneben liegen? Die unangenehme Crux der Sache liegt darin, daß Europa zwar die Straussianische imperiale Politik dieser US-Administration ablehnt, aber selber im Prinzip die gleiche neoliberale Wirtschaftspolitik der freien Marktwirtschaft in der Tradition von Hayeks vertritt. Und die Ideologie dieser freien Marktwirtschaft besagt, daß es Systemkrisen nicht gibt, daß es absolut narrensichere Stabilisierungsfaktoren gibt, mit denen eine Wiederholung der Depression verhindert werden kann, darunter u.a. die enge Kooperation in der G7, der WEU, der WTO, über den IWF und die Weltbank usw. (Nur schade, daß die Bush-Administration gerade Frankreich aus der G7 ausschließen will.)
Das Problem ist aber: das neoliberale System der freien Marktwirtschaft selber ist für den katastrophalen Zustand der realen Wirtschaft verantwortlich - in Deutschland ebenso wie weltweit. Natürlich gibt es eine hausgemachte Komponente bei der Krise, aber die ist das Resultat eines seit rund 35 Jahren schrittweise durchgeführten Paradigmenwechsels, der Deutschland von einer Gesellschaft von Produzenten in eine Gesellschaft von Konsumenten verwandelt hat. Ein inzwischen erstickendes Gestrüpp von Gesetzen, Bestimmungen, Verordnungen und Auflagen hat dafür gesorgt, daß sich die Vorstellung davon, wodurch gesellschaftlicher Reichtum entsteht, gewandelt hat: Nicht mehr Investitionen in wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt und ehrliche Arbeit bringen den gesellschaftlichen Reichtum, sondern angeblich die Spekulation an der Börse, Shareholder value, "Geld macht Geld", nicht mehr Investition in Exzellenz und Spitzenqualität, sondern in Billigproduktion und "just in time". Nicht der ehrliche Mittelständler wird unterstützt, der durch seine langfristige Orientierung neben dem Einkommen für sich und seine Familie auch für das Gemeinwohl sorgt, sondern der Profithai, der durch die Privatisierung der Bereiche, die eigentlich dem Gemeinwohl dienen sollten, den maximalen Gewinn abkassiert. Die Beschreibung dieses Wertewandels kann hier aus Platzgründen nur angedeutet werden.
In den 30er Jahren hat der Ökonom Dr.Wilhelm Lautenbach auf einer Konferenz der Friedrich-List-Gesellschaft den nach ihm benannten Plan vorgelegt, der auch für die Lösung der Krise heute hochaktuell ist. Die Grundidee besagt folgendes: Unter der gleichzeitigen Bedingung von internationaler Währungs- und Finanzkrise und Depression greifen die normalen marktwirtschaftlichen Mechanismen nicht mehr, weil die Kaufkraft sinkt und das Verbrauchervertrauen schwindet. Sparen, vor allem beim Staatshaushalt, sei das völlig falsche Mittel, weil es weitere Produktionskapazitäten zerstört, das Steueraufkommen weiter schrumpfen läßt, das Loch im Haushalt vergrößert und bei der nächsten Runde zu noch mehr Sparen zwingt.
Unter diesen Umständen kann nur der Staat die Wirtschaft wieder ankurbeln. Als dringlichstes Problem gilt es, die Massenarbeitslosigkeit als größten Kostenfaktor zu beseitigen. Deshalb muß der Staat Kreditlinien für produktive Investitionen zur Verfügung stellen, die aber ausschließlich an produktive Investitionen gebunden sind, bei denen ein echter Kapitalwert geschaffen wird, und die sich auf Bereiche beziehen, in die man auch investieren würde, wenn es der Wirtschaft gut ginge, also z.B. große Infrastrukturprojekte, Spitzentechnologie, die die Produktivität der Wirtschaft und der Arbeitskraft insgesamt anheben etc.
Der offensichtliche Rahmen für diese Investitionen kann das Transeuropäische Infrastrukturprogramm sein, das vor allem angesichts der Osterweiterung der EU dringend ausgebaut werden muß, und von dem die Europäische Kommission gerade berichtet hat, daß es seit seiner Konzeption 1994 mit viel zu wenig Finanzmitteln ausgestattet worden ist. Wenn dieses Transeuropäische Infrastrukturprogramm durch sogenannte Entwicklungskorridore mit China, Indien und anderen Ländern in Asien verbunden wird, dann kann die Eurasische Landbrücke schnell in Angriff genommen werden. Für Deutschland und Frankreich (und Europa insgesamt) ist die Entwicklung expandierender Exportmärkte die wesentliche Voraussetzung für die Sanierung ihrer Wirtschaften und damit auch der Sozialsysteme.
Dieses Konzept, der Ausbau der Eurasischen Landbrücke als Motor für die Erholung der Weltwirtschaft, das ursprünglich von meinem Ehemann Lyndon LaRouche, der sich für die Nominierung zum demokratischen Präsidentschaftskandidaten bewirbt, für die US-Wahl 2004 vorgeschlagen wurde, ist längst nicht mehr nur eine Idee, sondern wird heute bereits praktisch von China, Indien, Südkorea und den ASEAN-Staaten verwirklicht.
Die chinesische Regierung hat den Ausbau der Eurasischen Landbrücke und die Entwicklung der Regionen entlang der Landbrücke seit langem in ihr strategisches Langzeitprogramm für 2010 aufgenommen. Was liegt also näher, als daß in die Agenda 2010 diese Zielsetzung des chinesischen Langzeitprogramms integriert wird? Es gibt keinen besseren Weg, als bei uns produktive Vollbeschäftigung, wachsende Exportmärkte und reicherwerdende Kunden zu schaffen.
Es gibt also durchaus einen Ausweg aus dem Dilemma. Was nötig ist, ist eine breite Diskussion in allen die Wirtschaft und die Gesellschaft tragenden Institutionen darüber, welche Veränderungen wir in Gang setzen müssen, damit Deutschland, Frankreich und Europa insgesamt eine positive Zukunft haben. Unsere Nationen sind keine Wirtschafts-AGs und unsere Bevölkerung ist keine Kollektion von Ich-AGs. Charles DeGaulle hatte recht, als er sagte, das französische Volk sei keine Ansammlung grasfressender Kühe, sondern habe eine Mission in der Welt. Das gleiche gilt für Deutschland und ganz Europa.
Gerade in dieser gefährlichen Weltlage muß die Politik für Europa lauten: "Frieden durch Entwicklung!"
Über Ihre Antwort würde ich mich freuen.
Ihre Helga Zepp-LaRouche