Mai 2005:

Sehnsucht - Suche nach dem richtigen Leben

Stefan Ossenkopp
Im ersten Teil der Wiesbadener Schillerfeier am 8. Mai - anläßlich des 200. Todestags, der einen Tag später in Mainz begangen wurde - sprachen die Vorsitzende des Schiller-Instituts Helga Zepp-LaRouche sowie Stephan Ossenkopp und Carsten Werner von der LaRouche-Jugendbewegung. Stefan Ossenkopp (hier auf einem Archivbild) schilderte, wie er zu Schiller gefunden hat und was ihn an diesem universellen Dichter und Denker begeistert.

Der Mensch sehnt sich nach Gewißheit um die Bedeutung seiner Existenz. Die zahllosen Heuchler, die es für unwürdig oder unmöglich halten, Klarheit in diesen Gedanken zu bringen, können nicht verbergen, daß es das Ringen um Wahrheit ist, das schließlich jeden Menschen ergreift und ihn mit der Frage konfrontiert: Von welchen Kräften ist dieses Universum durchdrungen, und in welcher Beziehung stehe ich zu ihnen als Mensch? Als ich persönlich an den Punkt gelangte, wo sich mir diese Frage übermächtig aufdrängte, war es längst überfällig, die Einverständniserklärung mit der allgemein vorherrschenden Kultur, auch Zeitgeist genannt, die solche Fragen viel zu leichtfertig, oft gar mit Herablassung behandelt, für nichtig zu erklären.

Ich durchbrach endlich die Fassade der "Coolness", der gespielten Emotionslosigkeit, die ein so dominanter Charakterzug beim Umgang der Menschen miteinander geworden ist. Ich begann, gegen meine Gewohnheit, Erziehung und kulturelle Prägung zu handeln, kleine Schritte auf die Menschen zuzugehen, die ich sonst von mir fernhielt. Ich überwand eingebildete Ängste und half einigen Bedürftigen in meiner direkten Umgebung, meist Drogensüchtige und Obdachlose. Doch die Lösungen schienen auf dieser Ebene beschränkt, die Probleme dagegen überwältigend zu sein. Ich suchte also bald nach den Ursprüngen der Phänomene Armut, Elend und Rechtlosigkeit. Abstrakte Rationalisierungen findet man bei der vorherrschenden Philosophie des Zeitgeistes ja zuhauf. Aber sie alle geben kaum Aufschluß darüber, warum die Menschheit in diesem Zustand ist und scheinbar verharrt.

Die populäre Ansicht dazu ist häufig: "Die da oben machen doch mit uns, was sie wollen! Und daran wird sich nie etwas ändern!" Dessen wird der sich nach Gewißheit sehnende Mensch aber sehr bald überdrüssig. Denn so wird ihm weder seine eigene Natur klar - er selbst will ja etwas ändern - noch weiß er, mit welcher Methode er als Einzelner sich und die Gesellschaft positiv in Bewegung setzen kann.

Doch dann passierte etwas Erstaunliches: Ich traf auf Friedrich Schiller - sicher nicht zum ersten Mal, aber auf völlig neue Weise. Wer Schiller in Schulen lediglich als Relikt einer verstaubten Epoche deutscher Literatur behandelt, bringt den jungen, suchenden Menschen um eine wahrhaft große Entdeckung, die sein Leben verändern würde, nämlich die, daß im Individuum selbst alle nötigen Kräfte angelegt sind, die es braucht, um das Ziel zu erreichen. Ich brauche kein formales Zertifikat, keinen bestimmten Notendurchschnitt, kein Schauspieldiplom. Ich brauche keinen Lottogewinn, keine Schönheitsoperation, und erst recht nicht das, wofür ich mich rühmte, eine große Platten- und Videofilmsammlung, um mich für meine eigene historische Rolle in der Geschichte vorzubereiten. Ich benötige etwas ganz anderes: die Leidenschaft, aus meinem Potential das Maximum zu machen.

Schiller eröffnete mir also plötzlich den Zugang zur lebendigen Menschheit und zum historischen Individuum. Für Schiller ist das kurze Kapitel des einzelnen Menschen nämlich untrennbar mit dem ewigen Geschichtsbuch der Menschheit verbunden. Der einzelne Mensch besitzt wahre Identität gar nur, wenn er sich aufmacht und der Enge seiner sinnlichen Existenz die Weite seiner geistigen hinzufügt. Da mir Friedrich Schiller zeigte, wie einzelne Menschen und ihre geistigen Prinzipien, nicht Umstände, Daten oder Fakten, die Geschicke der Welt bestimmen, weckte er in mir die Sehnsucht, diejenigen Kräfte in mir auszubilden, die Veränderungen prinzipieller, nicht nur momentaner Natur zur Folge haben.

So begann Schiller, mich Schritt für Schritt zum wahren Menschen, zu einem "Abgeordneten der ganzen Menschheit" zu machen, wie es Marquis von Posa in Schillers Drama Don Carlos nennt. Beeindruckend, wie Schiller allein durch die Kraft seiner Ideen jedem zu jeder Zeit diesen Zugang gewährt. Kein bizarrer Ritus ist vonnöten, und kein niederer Status verhindert den Eintritt in die Sphäre der inneren Größe. Nie hätte ich gedacht, daß die Antwort auf die Frage nach Freiheit so nahe liegen würde, so daß ich sie und die Person, die sie verkörperte, lange übersah. So verblendet sind wir, daß wir uns eher in magische Geheimzirkel einweihen lassen wollen, als daß wir unsere großen Geister und ihre universellen Ideen in ihrer vollen Bedeutung zu erkennen streben.

Habe ich also heute hinter all dem Kulturgestrüpp, das uns zur Ablenkung dienen soll, den Beginn eines Pfades erkannt, so bin ich doch den Weg noch lange nicht gegangen, der mich an den Versammlungsort führen soll, an dem die großen Ideale der Menschheit verhandelt werden. Jetzt werden Mut, Anspannung der Kräfte und Durchhaltevermögen gefordert. Die Erkenntnisse wollen durch ein hohes Maß an Konzentration und Hingabe erkämpft werden. Gedankenbilder erscheinen von Zeit zu Zeit, die von ergreifender Schönheit und großer innerer Zufriedenheit künden, doch sehr häufig stolpert man oder bleibt am Dickicht hängen. Glaubt man in einem Augenblick, die Reise sei ein leichter Spaziergang, möchte man im nächsten Augenblick plötzlich aufgeben, weil der Fuß im Morast feststeckt. Schaut man zurück, so liegt der düstre, aber vertraute Ort, von dem man aufbrach, verlockend nahe, während die sonnigen Hügel, die man zu erreichen sich bemüht, irgendwo in der Ferne erst noch auftauchen müssen. Stimmen werden hörbar, die zur Umkehr mahnen. Verrückt sei es doch, auf die vage Möglichkeit zu vertrauen, den angeblich vom Schicksal mir zugewiesenen Platz zu verlassen und ins Ungewisse zu gehen.

Aber ich habe doch Schiller als Wegweiser. Seine eigene Glückseligkeit und seine bedingungslose Hingabe, einen unverfälschten Ausdruck der Natur und Vollkommenheit des Menschen zu schaffen, sollen mir glaubhafter Bürge sein. Was will ich in einer Welt, in der das Glück nur ein schnell vorbeihuschender Schatten ist, ein Phantom, dem man gigantische Statuen errichten mußte, um die Illusion seiner Existenz aufrechtzuerhalten. Ist der Weg auch lang und unbequem, soll ich aus "realistischen" Gründen auf der Stelle bleiben, den harmonischen Ruf aus der Ferne mit dem quälenden Krach übertönen lassen, der uns 24 Stunden täglich malträtieren soll? Soll auch ich mir fadenscheinige Ausreden einfallen lassen? Soll ich mich wie die Leute aufführen, die auf die Frage "Wollen Sie nicht auch die Welt verändern?" allen Ernstes antworten "Ich bin nicht von hier" oder "Jesus kommt doch bald höchstpersönlich wieder auf die Erde, um mich zu erlösen".

Nein, auch Ihr werdet Euch bald alle auf den Weg machen. Auch Euch werden Eure Eitelkeiten bald unangenehm sein, so wie mir. Und an was wir uns freiwillig gekettet haben, um es für ewig zu bewahren, das wird uns bald zur Last, von der wir uns schleunigst trennen möchten. Die innere Größe durchstößt dann die Beengung der äußeren Umstände, voll Befremdung schaut man auf das, was man einst innig liebte, und nur noch das, was das Wachstum des geistigen und universellen Wesens fördert, wird zur Wegmarke.

Der kühne Marquis von Posa sagt übrigens zum spanischen König Philipp: "Der Mensch ist mehr, als Ihr von ihm gehalten. Des langen Schlummers Bande wird er brechen und wiederfordern sein geheiligt Recht." Ja, sein Recht ist es! Wer den Menschen abhält von diesem Weg, wer ihm Fallen stellt, ihn aus kurzsichtigen oder verräterischen Gründen in die Irre lockt, der macht sich schuldig, der behindert den rechtmäßigen Gang der Menschheit hin zu ihrer wahrer Bestimmung. Keiner soll die am Gehen hindern, die sich entschlossen haben, aufzubrechen. Wir alle sollten uns statt dessen unterstützen, uns helfen, einander Mut zusprechen.

Schiller gibt uns dazu einen unschätzbar großen Anstoß. Er zeigt uns wahre Freundschaft und Menschenliebe. Er bewahrt uns auch vor lauernden Gefahren, indem er uns zeigt, wie man Fallen aus dem Weg gehen und falsche Ratgeber verschmähen kann. Wenn wir so, durch Schiller gestärkt und ermutigt, den Weg mit festen Schritten voranschreiten, werden wir auch andere, die noch unentschlossen oder ängstlich sind, mit uns nehmen können. Wir werden Skeptiker in Verwunderung und Argwöhner in Tobsucht versetzen, bis schließlich alle Menschen, auch der übelgelaunteste, ihre wahre Natur nicht mehr zu leugnen imstande sein werden.

Bis das Ziel dieser Reise tatsächlich von der Menschheit erreicht wird. Ich will einfach nur geben, was ich geben kann, um diesen allgemeinen Aufbruch zu beschleunigen, der die Gestalt der Welt verändert und Recht an die Stelle von Rechtlosigkeit und Wissen an die Stelle von Zweifel setzen wird. Bis zum Vollenden dieser größten aller Wanderungen der Menschheit empfinde ich weiterhin eine unauslöschliche... Sehnsucht. (Er schloß mit dem auswendigen Vortrag von Schillers Gedicht, d. Red.)


Zurück zur Kultur-Hauptseite: