Am 14. September 2000 veröffentlichte die OSZE eine weitere Presseerklärung, in der sie die albanischen Medien ausdrücklich auffordert, den kleinen Parteien mehr Raum in ihrer Berichterstattung einzuräumen. Ausdrücklich heißt es darin: "Die gegenwärtige Polarisierung des albanischen politischen Spektrums sollte den Sendern nicht als Vorwand dienen, einzelne Parteien oder Kandidaten zu diskriminieren und deren Fähigkeit zu beeinträchtigen, ihre Botschaft durch die Medien den Wählern zu übermitteln... Allen Spielern sollten in vernünftiger und fairer Weise Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet werden."
Was im Jahr 2000 unter den bürgerkriegsähnlichen Bedingungen in Albanien und im Kosovo galt, sollte erst recht unter den friedlichen Bedingungen einer Kommunalwahl in Deutschland gelten.
Das scheinen jedoch die Redaktionen von Wiesbadener Kurier und Wiesbadener Tagblatt, beide zur marktbeherrschenden Verlagsgruppe Rhein-Main gehörig, anders zu sehen. Seit der Zulassung der Wahlvorschläge am 27. Januar erschien in beiden Zeitungen jeweils nur eine Kurzmeldung über die Zulassung der Listen zur Wahl (am 28. Januar), in der auch die Zulassung der Kandidatenliste der Bürgerrechtsbewegung Solidarität erwähnt wurde - sonst wurde über die BüSo bisher von beiden Zeitungen mit keinem Wort berichtet.
Im Gegenteil, in einer Gegenüberstellung der Parteiprogramme, die bei einem Wähler, der sich einen Überblick über die antretenden Parteien verschaffen will, den Eindruck der Vollständigkeit erwecken muß, führte der Wiesbadener Kurier nur die sieben übrigen Listen auf, von der Existenz einer achten Liste, der Liste der BüSo, erfährt der Wähler nichts.
Auch im Vorspann einer Serie von Interviews mit den Spitzenkandidaten der antretenden Parteien, die seit dem 10. Februar erscheint, wird nur angekündigt, daß der Wiesbadener Kurier Interviews mit den Spitzenkandidaten von "sieben Parteien und Gruppierungen", die zur Kommunalwahl antreten, veröffentlichen wird. Auch hier gilt: Wer als Wähler nicht schon weiß, daß es acht Listen gibt, wird nicht den Eindruck bekommen, daß es noch weitere Kandidatenlisten gibt.
Im Pressekodex es Deutschen Presserates heißt es gleich unter Ziffer 1: "Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse." (Hervorh. v. A.H.)
Das Vorgehen von Wiesbadener Kurier und Wiesbadener Tagblatt wird offensichtlich weder den Forderungen des Deutschen Presserates noch den Forderungen der OSZE, deren Mitglied auch die Bundesrepublik Deutschland ist, gerecht. Wir sehen in der Art, wie die Redaktionen der Verlagsgruppe Rhein-Main, insbesondere die des Wiesbadener Kurier, die Kandidatur der Bürgerrechtsbewegung Solidarität bei der Wiesbadener Stadtverordnetenwahl verschweigen und den Eindruck erwecken, es stünden bei dieser Wahl nur sieben Listen zur Wahl, einen eklatanten Verstoß gegen das Gebot der "wahrhaftigen Unterrichtung der Öffentlichkeit" und der Fairness auch gegenüber kleinen Parteien.
Dieses Verhalten der Wiesbadener Lokalzeitungen ist um so bedenklicher, als es bei dieser Wahl keine 5%-Klausel gibt, und bei einer Wahlbeteiligung von rund 50% schon etwa 1200 Stimmen ausreichen, um einen Sitz im Stadtparlament zu gewinnen. Schon einige hundert Stimmen mehr oder weniger geben also den Ausschlag darüber, ob und wie viele Sitze eine Partei bei dieser Wahl gewinnt. Die Kandidaten der BüSo haben in Wiesbaden in den letzten Jahren trotz 5%-Klausel regelmäßig zwischen 579 und 701 Stimmen erhalten. Da davon auszugehen ist, daß in der Vergangenheit etliche BüSo-Sympathisanten sich durch die 5%-Klausel davon abschrecken ließen, ihre Stimme der BüSo zu geben, stehen die Chancen der BüSo, in die Wiesbadener Stadtverordnetenversammlung einzuziehen, also recht gut.
Offensichtlich hat eine "angemessene, wahrheitsgemäße und faire" Wahlberichterstattung der marktbeherrschenden lokalen Medien einen großen Einfluß darauf, ob die BüSo einige Hundert Stimmen mehr oder weniger erhält; eine solche Wahlberichterstattung ist also wahlentscheidend. Dadurch erhält das Vorgehen der Redaktion des Wiesbadener Kurier den Charakter einer Bevormundung der Bürger, der in einer Demokratie schlechterdings nicht hinzunehmen ist. Wie auch immer der Wiesbadener Kurier zur BüSo und ihrem Programm steht, das gibt ihm nicht das Recht, die Wähler irrezuführen, indem er den Eindruck erweckt, die BüSo kandidiere gar nicht.
Die BüSo hat daher in dieser Angelegenheit den Deutschen Presserat eingeschaltet und behält sich weitere Schritte vor.
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