September 2004:
Pfad:> Partei BüSo> BüSo Hessen> Kultur> Archiv


Ein Brief an Francesco Petrarca

Francesco Petrarca
BüSo-Mitglied Lutz Schauerhammer von den Wiesbadener Dichterpflänzchen wurde durch die Beschäftigung mit dem Werk Francesco Petrarcas dazu angeregt, dem Dichterfürsten einen Brief zu schreiben.

Verehrter Francesco Petrarca,

Vielen meiner heutigen Zeitgenossen wird es eigenartig vorkommen, daß ich einen persönlichen Brief an jemanden richte, der vor 700 Jahren das Licht der Welt erblickte - nicht aber Dir, der Du ja ebenfalls Briefe an bereits verstorbene Personen schriebst, die Dir wichtig erschienen und die damals ja auch nur in der "Gleichzeitigkeit des Ewigen" erreichbar waren.

Ich beginne mein Schreiben mit einer schlichten Anrede, nachdem Du in Deinem letzten Brief darum gebeten hast, Dich ohne Titel oder Ehrentitel anzusprechen (auch die Anrede "Dichterkönig" sollte ich weglassen, was ich nur ungern tue), und greife erneut Deine Bemerkungen zu einigen Problemen unserer heutigen Zeit auf. Zum einen, um mich selbst zu vergewissern, ob ich Dich richtig verstanden habe, zum andern, um einiges vertiefend zu besprechen und um letztlich auch bezüglich neuer Fragen Deinen Rat zu erbitten.

Zuvor aber möchte ich Dir nachträglich zu Deinem Geburtstag gratulieren, den Du am 20. Juli aus heutiger Sicht zum 700. Mal feiern konntest. Du siehst, man kennt Dich noch. Du warst Dir dessen nicht so sicher, als Du im Jahre 1370 den Brief an die Nachwelt schriebst. Man liest Deine Werke in allen Sprachen dieser heutigen Welt. Dein Ruhm leuchtet noch, obwohl man Dich manches Jahrhundert hindurch verloren und zudem von allerlei wissenschaftlichen Blickwinkeln aus interpretiert und zerpflückt hat.

Du bestätigst mir in Deinem ersten Brief, daß das Bemühen, welches Du beispielhaft Dein Leben lang vorantriebst - das Bemühen um Wahrheit, Schönheit, Erkenntnis, um Bildung und Charakterbildung - , auch heute fortgesetzt werden muß, obwohl die Renaissance, deren Vater und mutiger "Macher" Du warst, schon weit hinter uns liegt. Ach, ich vergaß, Du weißt ja nicht, daß man sich entschieden hat, die Zeitspanne nach Dir die Renaissance (oder den Humanismus) zu nennen. Sicherlich kannst Du Dir diese Bezeichnung besser erklären als mancher Mensch der heutigen Zeit.

Wie mein Jahrhundert sich beschreiben läßt, wolltest Du wissen. In wenigen Worten kann ich es nur so zusammenfassen: Unser Jahrhundert, gerade begonnen, ähnelt der Epoche, in der Du lebtest, die ebenfalls gekennzeichnet war durch ständige kriegerische Auseinandersetzungen aus Machtinteressen kleinerer und imperialer Aristokratien, durch Hungersnöte, mehrere schwere Seuchen und Pestepidemien und ein zusammenbrechendes Finanzsystem. Es sind ähnlich schlimme, dunkle Zeiten, wie Du sie erlebtest, und auch Dir fiel es bestimmt nicht leicht, mit der Unwissenheit der Zeitgenossen umzugehen. Aberglaube haben wir heute auch wieder, und Vorbilder mit Größe fehlen ebenfalls.

Du aber hast durch Dein persönliches Handeln Wege bereitet, die die Menschen aus dieser unwürdigen Lage heraus führen konnten. Deinem unermüdlichen und konsequenten Einsatz verdanken nicht nur die italienische Nation, sondern Gesellschaften in ganz Europa, ja weltweit verbesserte Lebensbedingungen über viele Jahrhunderte hinweg.

Die Suche nach Wahrheit

Als ich Dich fragte, warum in Deinem Gespräch über die Weltverachtung aus den Jahren 1342-43 zwischen dem heiligen Augustinus und Dir in Anwesenheit der Wahrheit letztendlich die Wahrheit nicht eindeutig Stellung bezieht, antwortetest Du mir, daß ich mein Handeln immer an den für mich und die Allgemeinheit wichtigen Fragen reflektieren und ausrichten soll. Und das unabhängig davon, wie tief ich in philosophischen, wissenschaftlichen, moralischen, ethischen oder theologischen Themen Wissen erlangt habe. Zudem verweist Du auf einen Brief, den Du 1373 an den jungen, mit Dir befreundeten Humanisten Donino in Piacenza richtetest. Ich glaube die Stelle gefunden zu haben, auf die Du mich hinweisen wolltest:

"...weil ich dir mit einem bekannten Beispiel etwa vorhandene Schlaffheit austreiben wollte, und damit ich dir zeige: Es gibt noch heute Menschen, die die Tugend zu schätzen wissen, wenn nur Tugend vorhanden ist. Du mußt für dich selbst entscheiden... Strebe also männlich weiter und zweifle nicht: Wenn du dich auf deine großen Anlagen besinnst, werden sie dich ebensowenig im Stiche lassen, wie der Wissenschaft und der Tugend die Ehre versagt bleiben wird."

Ich selbst finde das Sonett Nr. 6 aus dem Canzoniere, den Du etwas abfällig als Bruchstücke in der Volkssprache bezeichnet hast, in diesem Zusammenhang ebenfalls sehr hilfreich. (Ich schicke Dir das Sonett in einer Übertragung von Josef Kohler, der an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert in Berlin lebte und wie Du Jura studiert und gelehrt hat. Er war ebenfalls begeistert von den antiken Philosophen und von Deiner Dichtung. Diese Nachdichtungen entstanden übrigens zu Deinem 600. Geburtstag.)

Die Suche nach der Wahrheit selbst stellst Du jedenfalls niemals in Frage. Ganz im Gegenteil, Du lebst diese Suche vor.

Kritik an Scholastikern

Du hast mich in diesem Zusammenhang, als ich Dir die Frage nach dem Sinn aller wissenschaftlichen und philosophischen Betrachtungen stellte, auf Dein Büchlein von seiner und vieler Leute Unwissenheit hingewiesen, in dem Du Dich deutlich gegen scholastisches Denken ausgesprochen hast. Damit Du siehst, welche Stellen mich am meisten beeindruckten, will ich daraus zitieren:

"Ich halte Aristoteles für einen großen und vielgebildeten Mann, aber eben doch für einen Menschen, und ich glaube, daß er als Mensch vielleicht auch vieles nicht wissen konnte. Ja, ich möchte noch mehr sagen, wenn jene, weniger meine Freunde als Anhänger seiner Schule, es mir erlauben wollten: Bei Gott, ich glaube unzweifelhaft, daß Aristoteles nicht nur in kleinen Dingen, wo der Irrtum klein und wenig gefährlich ist, sondern auch in sehr wichtigen, das menschliche Heil betreffenden Fragen fehlgegangen ist, und zwar völlig."

- und etwas weiter im Text sagst Du:

"Ich habe, wenn ich mich nicht sehr täusche, alle ethischen Bücher des Aristoteles gelesen, und bevor diese meine so große Unwissenheit enthüllt wurde, glaubte ich auch, etwas davon zu verstehen. Ich bin durch diese Bücher gelehrter, aber nicht besser geworden, wie es sich gehört hätte. Ich habe es oft bei mir selbst und andern gegenüber beklagt, daß jener Kernpunkt der Philosophie, den er selbst im ersten Buch seiner Ethik erwähnt, bei Aristoteles so wenig betont wird: daß wir nämlich nicht so sehr viel wissen als vielmehr besser werden sollen... Es ist ein großer Unterschied, ob ich etwas weiß, oder ob ich es liebe; ob ich es verstehe, oder ob ich nach ihm strebe."

War das nicht unglaublich schwer? Erforderte das nicht ungeheuren Mut, gegen die allgemeine Lehrmeinung aufzutreten? Ist diese Forderung an Philosophie, den Menschen zu bessern, nur aus der Beschäftigung mit Augustinus gekommen, oder siehst Du hier auch einen Bezug zu Platons Denkweise?

Wiederbelebung des griechischen, platonischen Schule

Mit Schmerzen, so formuliertest Du es in Deinem mir vorliegenden Brief, stellst Du noch immer fest, daß Dir nur (wegen Deiner geringen Kenntnisse der griechischen Sprache) die römischen Philosophen offenstanden, deren Schriften, deren "Schätze" Du unermüdlich auf Deinen vielen Reisen suchtest.

Dein Schmerz ist verständlich, da Du überzeugt bist, daß Platon der Philosophenkönig sein muß und er Dir nur indirekt und kaum in originalen Schriften vorliegt. In der ständigen Erwähnung dieses Mangels aber erweckst Du in Deinem Freundeskreis und in nachfolgenden Humanisten ein Interesse, ja geradezu eine Begeisterung, sich dieser verschollenen griechischen Schriften anzunehmen.

Hat nicht Dein Freund Boccaccio, den Du immer und immer wieder dazu anhältst, sich zum Erlernen der griechischen Sprache entschlossen? Hat er nicht die Verbindungen nach Konstantinopel aufgebaut, die letztlich dazu führten, daß Du noch vor Deinem Tode eine lateinische Übersetzung der Ilias und Odyssee lesen konntest? - auch wenn Du darauf sieben lange Jahre warten mußtest.

Übrigens erinnert mich Deine Freundschaft zu Boccaccio an die Freundschaft der beiden deutschen Dichter Schiller und Goethe, die ebenfalls die Antike wiederbelebten und in ihrem "freundschaftlichen Arbeitsbund", wie sie ihr Zusammenwirken nannten, unvergängliche Kunstwerke schufen; vielleicht in einem späteren Brief mehr davon. - Du konntest auch an dem Verdienst deines Freundes Boccaccio teilhaben, der 1359 den ersten Lehrstuhl für Griechisch an der Universität zu Florenz einrichtete.

Der Anfang war also gemacht und Dein Aufruf gehört. Nach Deinem Tod begann, ausgehend von Florenz, ein intensives Sammeln und Übersetzen der griechischen Philosophen, was 1484 in der ersten vollständigen lateinischen Ausgabe von Platons Werken durch Marsilio Ficino gipfelte.

Das zeitlose Dialogkonzept

Worüber ich Dir aber meine besondere Freude mitteilen muß, ist Deine Idee mit dem Briefwechsel. Wie bist Du darauf gekommen, Briefe an historische Personen zu richten, die lange vor Dir gelebt haben, wie Homer und Cicero, Seneca, Livius und viele andere? Dabei tust Du auch noch so, als beantwortest Du eben frisch erhaltene Briefe von Ihnen.

Die Wirkung dieser Briefe auf mich und vermutlich auch auf Deine Zeitgenossen ist unglaublich stark. So falsch lagst Du nicht mit der Grundannahme, daß ähnliche Probleme die Menschheit bewegen, daß Lösungen aus der Vergangenheit zu Maßnahmen für die Gegenwart werden können, um die Zukunft zu gestalten und zu verbessern. Die Methode des Briefwechsels ist eine gelungene Veranschaulichung des Prinzips vom historischen Individuum. Die Ansprechpartner leben weiter und übernehmen zugleich Vorbildfunktion für handelnde Personen in der Gegenwart.

Wenn ich Dein Geschichtsverständnis mit dem heutiger Historiker vergleiche, dann bist Du eher ein lebenschaffender Künstler als ein Biograph - obwohl Du Dich auch auf diesem Feld betätigt hast, denn Du hast ja, bereits im Jahre 1338 beginnend, die Biographiensammlung Von berühmten Männern erstellt.

Aber zurück zu den Briefen. Deine Briefpartner werden als Deine Zeitgenossen lebendig, als solche, die sie in ihrer Zeit nicht hätten sein können, wozu sie aber geworden wären, wenn sie in Deinem Zeitalter gelebt hätten. Es kommt mir vor, als verwirklichten sich die antiken Denker erst in der Zukunft ihrer eigenen Geschichte. Dadurch werden die Menschen und deren Handeln unsterblich, denn ihre Zukunft ist prinzipiell uneingeschränkt. Das ist für uns heute, in einer sehr kurzlebigen Zeit, ein unglaublich schöner Gedanke, daß die Zukunft in der immer weitergehenden Verwirklichung der Geschichte besteht, daß dabei aber nicht nur Vergangenes zum Leben erweckt wird, sondern sich aus der heutigen, erweiterten Sicht Handlungsmöglichkeiten und Gestaltungsspielräume eröffnen, die in der Vergangenheit nicht verwirklicht werden konnten.

Die Frage nach der Autorität

Ich hatte es erwartet, daß auch Dein Brief an mich voll von historischen Beispielen und Bezügen sein wird. Obwohl ich darauf eingestellt war, machen mich diese vielen Beispiele, die Du in Deine Schriften und Briefe einbindest, beim Lesen ganz unruhig. Manchmal habe ich das Gefühl, Du willst damit prahlen, aber andererseits gefällt mir dieses Vorgehen, mit dem Du zu sagen scheinst: Schaut her, hier gebe ich exemplarisch vor, wie man handeln könnte, wie zu denken wäre.

In einem mir vorliegenden, alten Brief von Dir an Giovanni Colonna sprichst Du selbst über die Verwendung der Beispiele. Du rechtfertigst den häufigen Gebrauch der Exempla mit dem Hinwies darauf, daß die ausgewählten Beispiele nicht nur unterhalten, sondern auch Autorität besitzen sollen. War zu Deiner Zeit der Autoritätsbegriff nicht "mit dem Urteil eines Wissenden in seiner Wissenschaft" definiert, also eng mit der wissenschaftlich tätigen Person verbunden?

Wenn Du aber dem Beispiel Autorität verleihst, dann erinnerst Du zum einen an Cicero, der dem Exempel zur Einschätzung einer bevorstehenden Tat Bedeutung gibt und es als individuelle Norm für konkretes Handeln beschreibt. Hinzu kommt, daß in Deinem Autoritätsbegriff Kriterien wie Tugend, Lebensführung und Alter eine Rolle spielen, also eine starke moralische Komponente mitbestimmend ist. Mit der Verwendung des "historischen Beispiels" gehst Du über den aus der mittelalterlichen Predigtliteratur bekannten moralphilosophischen Zusammenhang hinaus, denn Du machst die Beschäftigung mit historischen Personen und deren Entscheidungen zur Grundlage der Charakterbildung. Auch erinnere ich mich, daß Du in der Vorrede zu den Berühmten Männern schreibst, daß der Umgang mit historischen Personen vor allem dem Ziel der eigenen moralischen Ausbildung dient, um dann letztendlich festzustellen, daß genau darin das Ziel der Geschichte überhaupt besteht.

Für diesmal habe ich genug Themen angesprochen, die mir gerade aus heutiger Sicht wichtig erschienen. Vielen Dank für Deine Geduld. Vielleicht reizt es Dich ja, die Korrespondenz fortzuführen. Ich würde mich darüber sehr freuen. Der Gedankenaustausch wäre auch hilfreich bei der Erarbeitung eines Rezitationsprogramms, in dem ich Dich meinen Zeitgenossen in Deinen Gedichten, Briefen und Schriften als "Renaissance-Macher" vorstellen will. Die Veranstaltung findet am Samstag, dem 23. Oktober dieses Jahres, um 16.00 Uhr im Bürgerhaus Wiesbaden-Sonnenberg statt.

Etwas will ich allerdings doch noch ansprechen, einen Vers aus den Avignon-Sonetten betreffend. Du hast ja in Briefen und in drei Sonetten den moralischen Verfall der Kurie in Avignon recht drastisch dargestellt.

In dem Sonett Nr. 106 (ich habe der italienischen Fassung zum Verständnis eine deutsche Übertragung von Benno Geiger gegenübergestellt) heißt es:

Welch eine Idee, den kommenden Rächer der in Avignon, dem neuen Babylon sitzenden maroden Kurie im fernen Bagdad (Baldacco) anzusiedeln!

Ich möchte mit einer Schlußformel enden, wie Du sie in vielen Deiner Briefe ähnlich verwendet hast:


Zurück zur Kultur-Hauptseite: