September 2002:
Pfad:> Partei BüSo> BüSo Hessen> Kultur> Archiv


Kirchen machen Pflegenotstand zum Wahlkampfthema

BüSo/Club of Life

Alarmruf des Kirchenpräsidenten: Das gegenwärtige Pflegesystem macht die Pflegebedürftigen zu "Bittstellern und Almosenempfängern". Nach der Bundestagswahl müsse "die Zeit der Lösungen anfangen".

Was für das Klinikpersonal gilt, trifft im besonderen für das ambulante oder in Heimen tätige Pflegepersonal zu. Der nebenstehende Aufruf wurde als DIN A3-Plakat von der BüSo und dem Club of Life veröffentlicht, welche sich für das Recht auf ein menschenwürdiges Leben von der Zeugung bis zum natürlichen Tod einsetzen.

Die evangelischen Kirchen und die Diakonischen Werke in Hessen wollen mit einer Öffentlichkeitskampagne den Pflegenotstand zu einem Wahlkampfthema machen. Dabei werden sie von anderen Landeskirchen und dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland unterstützt. Wie Wolfgang Gern, der Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werkes in Hessen und Nassau, erläuterte, werden in Hessen zwischen dem 27. August und dem 12. September auf 1200 Großflächen Plakate hängen. Sie zeigen alte Hände, die das Wort "Hilfe" sticken. In der Unterzeile fordern Kirchen und Diakonie auf: "Schweigen Sie nicht zu einer unverantwortlichen Pflegepolitik. Fordern Sie die Parteien." In dieser breit angelegten Kampagne (mit Großplakaten, Broschüren und Postkarten) werden alle hessischen Kandidatinnen und Kandidaten zum Bundestag sowie die mit dem Thema befaßten Politiker angesprochen. Auch Kanzler und Kanzlerkandidat werden aufgefordert, zu diesem Thema Stellung zu nehmen.

Kirchenpräsident Dr. Peter Steinacker hob hervor, daß nach christlichem Verständnis alle Pflegebedürftigen ein Recht auf Pflege und Zuwendung hätten; das gegenwärtige Pflegesystem mache sie aber zu "Bittstellern und Almosenempfängern". Er hoffe auch, daß nach der Bundestagswahl "die Zeit der Lösungen anfängt".

Martin Slenczka, Landespfarrer für Diakonie in Kurhessen-Waldeck, kritisierte die "äußerst mangelhafte Finanzierung", wobei eine "Billigpflege in Kauf genommen und gefördert" werde, in der es nicht mehr um persönliche Zuwendung, sondern nur noch um wirtschaftliche Faktoren ginge. Viele Pflegeeinrichtungen arbeiten mit Defizit und müssen nicht selten, wie kürzlich in Hannover, schließen. Slenczka warnte weiter, daß angesichts der schlechten Arbeitsbedingungen und der großen körperlichen und geistigen Belastungen der Nachwuchs ausbleibe. Denn schon jetzt seien nicht genügend qualifizierte Kräfte zu finden. Wie Wolfgang Gern weiter ausführte, versuchen viele Pflegekräfte aus den katastrophalen Bedingungen das Beste zu machen: "Sie arbeiten bis an die äußersten Grenzen ihrer Belastbarkeit. Die wenigsten halten das länger als fünf Jahre durch, die meisten wechseln den Beruf".

Patienten, Angehörige und Pflegekräfte erlebten den gleichen Widerspruch zwischen ethischem Anspruch einer menschenwürdigen Pflege und den Finanzierungsressourcen des derzeitigen Pflegeversicherungssystems. Diese Situation dürfte sich noch weiter verschärfen. So verwies der Präsident des Diakonischen Werkes der EKD, Jürgen Gohde, auf die demographische Entwicklung weltweit. Die Zahl der Hochbetagten nehme zu, und die Zahl der jungen Menschen nehme ab. Danach sei Altenpolitik nicht länger eine soziale, sondern auch eine gesellschaftspolitische Frage. Daher fordern die Kirche und die Diakonie eine breite Debatte darüber, wieviel der Gesellschaft eine menschenwürdige Pflege wert sei.

Pflege in Deutschland leidet an finanzieller Auszehrung. So kann zwar jeder, der auf Hilfe angewiesen ist, die ambulante Versorgung durch einen ambulanten Pflegedienst in der eigenen Wohnung in Anspruch nehmen. Sobald aber mehr Pflege benötigt wird und niemand aus der Verwandtschaft und dem Bekanntenkreis einspringen kann, bekommt man zwar eine höhere Pflegestufe, aber nur geringfügig mehr Geld von der Pflegekasse. Den entstehenden Differenzbetrag zwischen den Leistungen der Pflegeversicherung und den Forderungen des Pflegedienstes muß man dann aus eigener Tasche bezahlen. Den meisten Pflegebedürftigen bleibt dann oft nur der Weg in das Pflegeheim. Dort ist die Pflege und Betreuung aber oft nicht ausreichend. In guten Heimen steht für zwölf Bewohner eine Pflegekraft zur Verfügung. Diese hat oft nicht mehr als 40 Minuten Zeit für Pflege und Betreuung pro Tag und pro Bewohner. Mindestens ein Drittel dieser Zeit geht zudem noch für Vorbereitungsarbeiten und Dokumentation verloren. Da bleibt oft nur eine halbe Stunde für Waschen, Ankleiden, Begleitung zur Toilette usw. Gespräche und persönliche Zuwendung bleiben so auf der Strecke.

Daher fordern Kirchen und Diakonie zu recht, daß die Grundlagen einer menschenwürdigen Pflege gesichert werden, daß psychosoziale Betreuung im Alltag und Trost im Sterben in der Pflege ausreichend Platz haben, daß sich die Leistungen der Pflegeversicherung am individuellen Hilfsbedarf orientieren muß, daß Arbeits- und Ausbildungsbedingungen verbessert werden, daß das komplizierte Verhältnis zwischen Kranken- und Pflegekassen reformiert und der Rechtsschutz der Pflegeversicherung verbessert wird.


Zurück zur Kultur-Hauptseite: