September 2003:
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Schillers Konzept der schönen Seele

Ein Beitrag der deutschen Klassik für eine neue menschliche Ordnung

Von Helga Zepp-LaRouche

Konferenz des World Public Forum / Rhodos

Den folgenden Vortrag hielt die Vorsitzende der BüSo und des internationalen Schiller-Instituts Helga Zepp-LaRouche auf der Konferenz des World Public Forum (Öffentliches Weltforum) vom 3.-6. September in Rhodos.



Welcher denkende Mensch bezweifelte, daß sich die Menschheit in der wahrscheinlich größten Gefahr ihrer Geschichte befindet? Das gegenwärtige globale Finanzsystem befindet sich in der Endphase seines systemischen Zusammenbruchs als Resultat des neoliberalen Paradigmawandels, der seit rund vierzig Jahren in den G7-Staaten - und nach dem Kollaps der Sowjetunion auch in den früheren Comecon-Staaten - das Gewicht immer mehr von der Produktion realer Güter zur Spekulation verlagert hat, von einer Gesellschaft von Produzenten zu einer Gesellschaft von Konsumenten. Als ein Aspekt dieses Paradigmawandels spricht heute niemand mehr von "Entwicklungsdekaden" der UN, sondern in den sogenannten Industrienationen wird offensichtlich hingenommen, daß ein Teil der Menschheit im Elend versinkt und der afrikanische Kontinent von den führenden Finanzinstitutionen abgeschrieben ist.

Es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen der systemischen Zusammenbruchskrise und der wachsenden Gefahr eines globalen Nuklearkrieges, die nicht zuletzt durch die neue amerikanische Doktrin des präventiven Atomkrieges und des Einsatzes sogenannter Mininukes [Mini-Atombomben] entstand, mit der auf sehr gefährliche Weise die Grenze zwischen dem Einsatz nuklearer und konventioneller Waffen verwischt wird. Unüberbrückbar stehen sich die Vorstellung einer unilateralen imperialen Weltordnung, die "Multipolarität" als Kriegsgrund sieht, und die Idee einer Völkergemeinschaft souveräner Staaten, die auf das internationale Völkerrecht gegründet ist, gegenüber.

Auch wenn der Welt die atomare Katastrophe erspart bliebe: Wir stehen am Ende der gegenwärtigen historischen Epoche und damit der Wertvorstellungen, auf die die Zuspitzung der Krise bis heute zurückgeht. Die Frage ist deshalb, ob die neuen Werte die Charakteristika eines neuen Barbarentums und eines neuen dunklen Zeitalters aufweisen werden, oder ob die besten Köpfe und Kräfte in der Welt rechtzeitig zusammenarbeiten und einen Wertewandel hervorrufen können, der eine positive Alternative für die Menschheit definiert.

Wenn wir dieses Problem lösen wollen, müssen wir uns damit auseinandersetzen, daß es in der europäischen Zivilisation zwei völlig entgegengesetzte erkenntnistheoretische Traditionen gibt, deren eine gegenwärtig die internationalen Institutionen dominiert und für die heutige zivilisatorische Krise verantwortlich ist. Und es gibt die zweite, in deren Ideen und Prinzipien der Ansatz für die Überwindung der Krise zu finden ist und die mit gleichartigen Ideen anderer Zivilisationen und Kulturen übereinstimmen.

Diese zweite, die positive, ist die platonisch-humanistische Tradition. Sie geht von einem Menschenbild aus, das die Identität des Menschen als kognitives Wesen auffaßt. Der Mensch ist durch seine Fähigkeit zur kreativen Vernunft von allen anderen Lebewesen unterschieden. Er ist fähig zur Formulierung kreativer Hypothesen, die es ihm gestatten, die Naturgesetzlichkeit der kosmischen Ordnung immer besser zu verstehen und folglich seine Lebensgrundlagen ständig zu verbessern. Politisch gesehen ist dieses Menschenbild der platonisch-humanistischen Tradition mit einem Staatskonzept verbunden, das die einzige Legitimation des Staates und seiner Regierung aus der Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl bezieht. Bei Platon findet sich diese Idee der unendlichen Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen zum ersten Mal, mit dem Christentum war diese Idee erstmalig als für alle Menschen gültig aufgefaßt, da jeder Mensch als imago dei, als Ebenbild Gottes verstanden wurde. Historisch gesehen entwickelte sich diese Idee eines dem Gemeinwohl verpflichteten Staates aber erst im 15.Jh. mit der Entstehung des souveränen Nationalstaates. Diese Staatsform hat das Selbstinteresse, alle Fähigkeiten seiner Bürger zu entwickeln, weil sie die Quelle des Reichtums aller sind.

Die erste Tradition, auf die Platon in seinem berühmten Höhlenbeispiel verweist, reduziert den Menschen zu einem Wesen, für das es die kreative Vernunft der Welt der Ideen nicht gibt, sondern das seine einzige Erkenntnis aus der sinnlichen Erfahrung schöpft. Der Mensch nimmt die Realität nur wahr wie jemand, der in einer Höhle sitzt und die Schatten an einer unebenen, schwach beleuchteten Wand, die von Ereignissen außerhalb der Höhle hereinfallen, für die Wirklichkeit selber hält. Diese Tradition leugnet die Existenz und Wißbarkeit universell verifizierbarer Prinzipien, und sie trat in der europäischen Geschichte wahlweise als Positivismus, Empirismus, Materialismus oder Utilitarismus auf.

Politisch war dieses Menschenbild immer mit oligarchischen und imperialen Staatsformen verbunden, bei denen eine kleine Machtelite über den überwältigenden Teil der Menschen herrschte, denen nicht mehr als der Status menschlichen Viehs zugebilligt wurde, das nach Bedarf als Sklaven ausgebeutet und sogar getötet werden durfte, wie Schiller dies z.B. für die Heloten Spartas beschreibt. Der extreme Utilitarismus, der heute mit dem ökonomischen Paradigma von ungezügelter freier Marktwirtschaft, Globalisierung und Shareholder Value verbunden ist, reduziert einen Großteil der menschlichen Gattung zu diesen Status. Leibniz prognostizierte bereits am Ende des 17. Jahrhunderts, daß es zu einer globalen Revolution kommen werde, falls der Utilitarismus einmal alle Regierungen und führenden Institutionen der Welt übernommen haben würde.

Da die imperialen Kräfte heute ebenso wie im alten Rom davon ausgehen, daß sie ihre Macht nur auf die Rückständigkeit und Fremdbestimmtheit der Massen stützen können, verfolgten ein Großteil der Massenmedien und vor allem die Unterhaltungsindustrie zunehmend eine Politik, die auf die systematische Verdummung der Bevölkerung hinausläuft. Die politischen Institutionen heute werden vorwiegend von oligarchischen Prinzipien dominiert, und die Masse der Bevölkerung scheint dem von ihnen vertretenen Denkmodell, daß der Mensch eben nur ein Wesen der sinnlichen Wahrnehmung sei, mit ihrer endlos scheinenden Jagd nach Geld, mit ihrer Objektfixiertheit, ihrer Sucht nach Vergnügen im Hier und Jetzt auch noch recht zu geben. Indische Gelehrte kritisieren zurecht, daß der Westen sehr stark von "pavrrti", dem Handeln nach außen, ohne jegliche spirituelle oder seelische Entwicklung, "nivrrti", beherrscht werde.

Ich möchte hier die These aufstellen, daß der europäische Teil der Weltzivilisation - und dazu gehören historisch gesehen nicht nur Europa, sondern auch die USA sowie Mittel- und Südamerika - nur die Kraft finden wird, aus der gegenwärtigen Krise herauszufinden, wenn es gelingt, die notwendigen wirtschaftlichen Reformen - d.h. eine Neubestimmung der Wirtschaftspolitik, weg von der grenzenlosen Profitgier einer Oberschicht, hin zu einer Orientierung am Gemeinwohl - mit einer kulturellen Renaissance zu verbinden, die an die besten Ideen der platonisch-humanistischen Tradition und der klassischen Perioden der europäischen Geschichte anknüpft.

Ich denke, daß in den Werken der großen Dichter und Denker, Entdecker und Künstler der europäischen Kultur alle notwendigen Ideen zu finden sind, die wir heute brauchen: Platon, Augustinus, Dante, Leonardo da Vinci, Nikolaus von Kues, Kepler, Leibniz, Bach, Gauß, Mozart, Beethoven, Riemann, Wernadskij, um nur einige zu nennen, haben methodologisch im Prinzip alles gedacht, was heute notwendig ist, um die Welt wieder in Ordnung zu bringen. Aber ich denke auch, daß kaum einer der großen Geister der Vergangenheit für die Überwindung der heutigen Existenzkrise wichtigere Gedanken gehabt hat als der deutsche Dichter der Freiheit: Friedrich Schiller. Seine Vorstellung, daß jeder Mensch das Potential besitzt, sich zu einer "schönen Seele" zu entwickeln, ist heute eine notwendigere Idee denn je. "Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseins ist", schreibt Schiller im vierten seiner Ästhetischen Briefe.

Man kann förmlich den Aufschrei aus gewissen Lagern hören: "Der Zeitgeist ist heute doch ganz anders, Schillers Kulturoptimismus und Idealismus sind doch längst obsolet! Und überhaupt, Nietzsche hat doch wohl schon endgültig mit Schiller abgerechnet. Und außerdem, wie kann man nach der Erfahrung der zwölfjährigen Katastrophe in Deutschland überhaupt noch glauben, daß es diesen ,reinen idealischen Menschen', von dem Schiller spricht, überhaupt gibt?" So ertönt es im Chor. Das Problem ist nur, daß die Stimmen dieses Chores alle die Werte und Denkweisen reflektieren, die gerade dabei sind unterzugehen.

Schiller ist gerade heute so brandaktuell, weil er sich zu seiner Zeit mit der Frage auseinandergesetzt hat, woher die Verbesserung im Politischen kommen soll, wenn die Regierungen korrupt und die Massen degeneriert sind. Und er gelangte zu der auch heute noch gültigen Erkenntnis, daß die Verbesserung im Politischen nur durch die Veredlung des Einzelnen erreicht werden kann. Schiller beschreibt die Zerrissenheit des Menschen in seiner Zeit, die im Prinzip sehr der unseren gleicht: "Jetzt aber herrscht das Bedürfnis und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen", heißt es im zweiten Ästhetischen Brief und im sechsten beschreibt er den in der Welt des Materialismus befangenen Menschen: "Wir sehen nicht nur einzelne Subjekte, sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, während die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind." Und: "Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zum Abdruck seiner Geschäfte, seiner Wissenschaft." Was also ist zu tun, wenn der Zeitgeist die Identität der meisten Menschen in den Bereich der physischen Existenz und der sinnlichen Erfahrung herunterzieht?

Viele Philosophen haben sich damit beschäftigt, wie die Vernunft des Menschen entwickelt werden kann, aber Schillers besonderer Beitrag besteht gerade darin, nicht nur die Vernunft, sondern eben auch eine Methode zu entwickeln, wie die Gefühle des Menschen veredelt werden können. Er betrachtete es geradezu als das weltgeschichtliche Ziel der Entwicklung des Menschen, "eine innige Übereinstimmung zwischen seinen beiden Naturen [der sinnlichen und der geistigen nämlich] zu stiften, immer ein harmonierendes Ganzes zu sein und mit seiner vollstimmigen Menschheit zu handeln".

Deshalb ist für Schiller die "schöne Seele" das Hochziel der menschlichen Entwicklung. Eine "schöne Seele" ist der Mensch, für den Freiheit und Notwendigkeit, Pflicht und Leidenschaft in eins fallen, so daß der so gebildete Mensch stets blindlings seinen Gefühlen vertrauen kann, weil sie ihm nie etwas anderes empfehlen würden, als seine Vernunft ihm gebietet. Schiller beschreibt dieses Ideal sehr schön in seinen Kallias-Briefen am Beispiel des guten Samariters, der dem Notleidenden spontan hilft, ohne auch nur für einen Augenblick an seine eigene Situation und Interessen zu denken.

Gerade weil die Menschen in emotionaler Hinsicht aber wie "verkrüppelte Gewächse" sind, sagte Schiller, daß die "Ausbildung des Empfindungsvermögen" das "dringendste Bedürfnis unserer Zeit" sei. Und ist das nicht eines der Hauptprobleme, die wir auch heute haben? Die exzessiven sinnlichen Bedürfnisse, die mit der Verankerung der Identität in der Welt der sinnlichen Erfahrung einhergehen - also die Begierden für das eigene Ich - sind leider an eine brutale Indifferenz für die Bedürfnisse der leidenden Menschheit gekoppelt. Während der erbarmungswürdige Zustand des überwiegenden Teils der Menschheit den denkenden und empfindsamen Menschen entrüstet und zum Handeln aufruft, fehlt der Mehrheit der Menschen auch nur das Vorstellungsvermögen, über den kleinen Bereich des eigenen Lebens hinauszudenken und zu fühlen. Wenn man diese Menschen auffordert, sich mit diesen größeren Gegenständen zu beschäftigen, tritt augenblicklich ein psychologischer Block ein und die abwiegelnde Antwort lautet: "Das laß ich erst gar nicht an mich rankommen."

Ein Mensch, der seine Identität nur im Bereich seiner sinnlichen Erfahrung, also seiner physischen Existenz ansiedelt, wird immer mit Angst reagieren, sobald er die Vorstellung gewinnt, daß seine physische Existenz bedroht sei. Für die Ausbildung des Empfindungsvermögens ist deshalb Schillers Begriff des Erhabenen entscheidend. "Nur als Sinnenwesen sind wir abhängig, als Vernunftwesen sind wir frei", sagt Schiller in der Schrift Vom Erhabenen. Als Sinnenwesen tritt der Selbsterhaltungstrieb in Kraft, sobald uns etwas Angst einflößt, oder ein empfundener Schmerz uns in Schrecken versetzt, und die Begrenzung auf den Versuch, uns als physische Existenz zu erhalten, verwandelt uns in Sklaven.

Und in einer weiteren Schrift zu diesem Thema, die den Titel Über das Erhabene trägt, schreibt Schiller: "Alle anderen Dinge müssen müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will. Ebendeswegen ist des Menschen nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf. Wer sie uns antut, macht uns nichts geringeres als unsere Menschheit streitig; wer sie feigerweise erleidet, wirft feigerweise seine Menschheit hinweg." Und es gibt diese bemerkenswerten Sätze Schillers aus dem Jahre 1801:" Man könnte den Menschen zum halben Gott bilden, wenn man ihm durch Erziehung suchte, alle Furcht zu benehmen. Nichts in der Welt kann den Menschen sonst unglücklich machen als bloß und allein die Furcht."

Schillers Antwort liegt in der Identität des Erhabenen, die nur möglich ist, wenn der Mensch sich eben nicht auf seine physische Existenz beschränkt, sondern sich universellen Ideen und Prinzipien verpflichtet fühlt, die über die Begrenztheit seines eigenen Lebens hinausreichen. Nur wenn er seine moralische, nicht seine physische Sicherheit als die vorrangige Aufgabe seines Lebens betrachtet, kann er die sinnliche Natur in ihre Schranken verweisen und seiner vernünftige Natur ihre Überlegenheit beweisen. Ein Mensch, der gelernt hat, erhaben zu denken und zu fühlen, wird auch dem Schrecken des Todes nicht erliegen, sondern schon während seines begrenzten Lebens in der Unsterblichkeit leben. "Groß ist, wer das Furchtbare überwindet, erhaben ist, wer es, auch selbst unterliegend, nicht fürchtet", sagt Schiller.

"Die Fähigkeit, das Erhabene zu empfinden, ist also eine der herrlichsten Anlagen der Menschennatur", bemerkt Schiller, weil sie ihn vollkommen frei mache. Schiller betrachtet das Schöne als eine notwendige Bedingung der Menschheit, aber die Schönheit erstreckt sich noch auf die Welt der Sinne. Deshalb "muß das Erhabene zu dem Schönen hinzukommen, um die ästhetische Erziehung zu einem vollständigen Ganzen zu machen und die Empfindungsfähigkeit des menschlichen Herzens nach dem ganzen Umfang unserer Bestimmung, und also auch über die Sinnenwelt hinaus, zu erweitern."

Dichtung und klassische Kunst nicht als Kissen, das vor der rauhen Wirklichkeit schützt, sondern als der Weg, wie der Mensch wirklich und in der Realität frei wird, das war Schillers Idee. Die durchschnittliche Frau und der durchschnittliche Mann, der ins Theater geht und auf der Bühne das große Schicksal der Menschheit dargestellt sieht, wird aus der engen Begrenztheit des Alltagslebens emporgehoben. Wenn das historische Drama den klassischen Standard Schillers erfüllt, dann identifizieren sich die Zuschauer im Publikum mit den Helden auf der Bühne, von deren Handeln das Schicksal ihrer Nation und das Glück oder Unglück ihres Volkes oftmals auf zukünftige Generationen hinaus abhängen, und sie lernen so gleichsam spielerisch, großer und erhabener zu denken.

Das ist der Grund, warum ein Aspekt des alten für die Krise verantwortlichen Paradigmas so überaus schädlich ist, nämlich das Regietheater, d.h. die letzthin auf Bertolt Brecht zurückgehende willkürliche Neuinterpretation klassischer Stücke. Der sogenannte Entfremdungseffekt und ähnliche Mittel haben gerade die Absicht, die Identifizierung des Publikums mit den großen Themen auf der Bühne zu verhindern. Alles wird in Frage gestellt, alles wird lächerlich gemacht und relativiert, und das Ergebnis sind Hoffnungslosigkeit und Zynismus. Und der Zynismus ist der Tod aller Kreativität.

Im Gegenteil, Schiller war sich bewußt, daß der Enthusiasmus die wichtigste treibende Kraft des schöpferischen Handelns ist, und betonte deshalb, wie wichtig es sei, auch im reifen Alter die Ideale der Kindheit hochzuhalten. Schillers Kulturoptimismus und Idealismus sind das Gegenteil von weltfernen utopischen Träumereien, sie sind die Ideen, die notwendigerweise der Tat vorausgehen, wenn sich die Geschichte positiv entwickeln soll.

Diese Sichtweise Schillers ist es gerade, was wir heute brauchen: keinen trockenen Pragmatismus, der sich mit der Realität abfindet, so wie sie schlecht genug ist, und aus dem noch nie etwas Neues gekommen ist, sondern eine große Idee, wie die Welt sein soll. Eine Vision für die Zukunft, die die Menschen inspiriert und zum positiven Handeln anregt, ist es, was die Menschheit voranbringt. "Lebe mit diesem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf", sagte Schiller in den Ästhetischen Briefen.

Nur wenn sich der Mensch über das anscheinend Selbstevidente (die Welt der sinnlichen Erfahrung) emporhebt, kann er die universellen verifizierbaren Prinzipien entdecken, die dem Universum entsprechen, so wie es wirklich ist. Auf die Kunst bezogen sagt Schiller dazu ausdrücklich: "Die Gesetze der Kunst sind nicht in den wandelbaren Formen eines zufälligen und oft ganz entarteten Zeitgeschmacks, sondern in dem Notwendigen und Ewigen der menschlichen Natur, in den Urgesetzen des menschlichen Geistes gegründet. Aus dem göttlichen Teil unseres Wesens, aus dem ewig reinen Äther idealistischer Menschheit strömt der lautere Quell der Schönheit herab, unangetastet von dem Geist des Zeitalters, der tief unter ihm in trüben Strudeln dahinwallt."

Tief platonisch und cusanisch [im Sinne des Nikolaus von Kues] ist der Gedanke, daß die "Urgesetze des menschlichen Geistes" eine direkte Entsprechung zu der letztlich gerechten Weltordnung aufweisen; hierin liegt der Grund, warum der Mensch das Tragische überwinden und auch noch im Untergang die erhabene Annäherung an seine göttliche Bestimmung, seine Unsterblichkeit erreichen kann.

Die Idee, daß der Mensch "die Angst des Irdischen von sich werfen" und seine Identität in der Unsterblichkeit ansiedeln kann, zieht sich durch das ganze Werk des Dichters. Ein wichtiges Mittel dazu ist das Studium der Universalgeschichte, denn, so argumentiert Schiller, nur wer zu schätzen weiß, wieviel an Kämpfen, persönlichen Opfern und Einsätzen des eigenen Lebens aller Generationen vor uns notwendig war, um unsere Existenz heute zu ermöglichen, um alle Reichtümer, die wir heute besitzen, zu schaffen, nur ein solcher Mensch wird auch ein edles Verlangen verspüren, durch seinen Beitrag die empfangenen Schätze reich und vermehrt an die Nachwelt weiterzugeben, und so "unser fliehendes Dasein" an der unvergänglichen Kette aller Menschengeschlechter zu befestigen.

Die Worte, die Schiller 1789 in seiner Antrittsvorlesung als Historiker an die Studenten in Jena richtete, sie gelten für uns noch heute: "Wie verschieden auch die Bestimmung sei, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet - etwas dazusteuern können Sie alle! Jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgetan, zur wahren Unsterblichkeit meine ich, wo die Tat lebt und weitereilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte."

Schillers Konzept der Universalgeschichte, daß nämlich alle Begebenheiten bis zu diesem Zeitpunkt nötig sind, um etwa zu erklären, daß wir uns heute in dieser Zusammensetzung in diesem Raume zusammenfinden, ist meiner Auffassung nach auch die beste Weise, um den Dialog der Kulturen voranzutreiben. Nimmt man die Universalgeschichte als Grundlage, wird offensichtlich, daß nicht eine Kultur oder eine Nation die Fackel des Fortschritts der Menschheit getragen hat, sondern mal diese, mal jene. Und es wird auch deutlich, daß sich große universelle Ideen, die von einem Denker in einer Kultur gedacht worden sind, über die Jahrhunderte in anderen Kulturen fortgepflanzt haben und andere Denker befruchtet haben.

Der jüngste Fund einer 9500 Jahre alten Stadt im Golf von Cambay, 30 Kilometer westlich des Staates Gujarat, 36 Meter unter dem Meeresspiegel z.B. hat enorme Implikationen für die Erforschung der Universalgeschichte. Denn diese Großstadt, die 5000 Jahre älter als vergleichbar große Städte in Mesopotamien ist, bestätigt Beschreibungen in den frühen rigvedischen Schriften über Städte entlang des Flusses Sariswati, von dem man gar nicht angenommen hatte, daß er sich in Indien befände, und auf dessen Existenz man erst durch Satellitenphotos aus dem All gestoßen ist. Was sagt diese Entdeckung über die Bedeutung der vedischen Kultur für die menschliche Zivilisation insgesamt aus?

In der indischen Kultur gab es mehrere Hochphasen, von der Zeit der vedischen Kalender, der Entstehung der Upanishaden, über die Gupta-Periode bis hin zur Renaissance Ende des 19. und Beginn des 20.Jh. In China begründete Konfuzius eine der größten philosophischen Traditionen der Weltkultur, es folgten Mencius und Zhu Xi sowie die großartigen Kunstwerke der Tang- und Song-Dynastie; der Kaiser Kang-shi wurde von Leibniz um seiner mathematischen Kenntnisse willen gepriesen. Ägypten, die eigentliche Wiege der europäischen Kultur, erlebte ebenfalls viele Hochphasen, vor allem die Dritte Dynastie des Alten Reiches, aber auch die Vierte, die Zwölfte, die Neunzehnte und Zwanzigste Dynastie.

Nachdem das klassische Griechenland aufgrund seiner imperialen Bestrebungen untergegangen war und Europa nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches in ein dunkles Zeitalter stürzte, legten die Kalifen der Abbasiden-Dynastie die Grundlagen für die Entstehung der islamischen Renaissance, die die europäische Kultur rettete und über Harun al Rashids Verbindung zu Karl dem Großen wieder nach Europa brachte. Die andalusische und die italienische Renaissance sowie die deutsche Klassik bilden weitere Hochphasen. Es würde den Rahmen dieses Vortrages sprengen, wollte ich auch nur annähernd Vollständigkeit erreichen.

Mir geht es vor allem darum, deutlich zu machen, daß der Dialog der Kulturen vom Standpunkt der besten Beiträge, die jede gemacht hat, geführt werden sollte. Denn dann erkennen wir, wie Recht Schiller damit hat, daß sich die Spuren universeller Ideen in Wissenschaft, Philosophie und Kunst durch die ganze Menschheitsgeschichte ziehen und daß, wenn man zunächst das gemeinsame Universelle erkannt hat, die Vielheit und die Verschiedenheit eine phantastische Bereicherung darstellen.

Und so ist es denn kein Zufall, daß das alte Konzept der Upanishaden von der wesentlichen Einheit aller Religionen und aller spirituellen Wege (ekoham svat virpa bahuda vadanti), die "Wahrheit ist eine, die Weisen haben ihr nur verschiedene Namen gegeben" z.B. in dem cusanischen Gedanken wiederkehrt, daß das Eine eine höhere Ordnung repräsentiert als das Viele. Ein weiteres Konzept der Vadanta, das "Wohlergehen aller Lebewesen auf diesem Planten" (bahujana shukaya bahujana hitaya cha), findet seine Entsprechung in dem europäischen Konzept des Ewigen Rechtes und des Naturrechtes, nach dem das Recht auf der bestmöglichen Entwicklung aller gründet.

Die cusanische Idee, daß es im Makrokosmos nur Konkordanz geben kann, wenn sich alle Mikrokosmen auf die bestmögliche Weise entwickeln, muß auch für die Beziehung zwischen den Nationen und Kulturen dieser Welt gelten. Sie muß zur Grundlage einer neuen Weltordnung als einer Prinzipiengemeinschaft vollkommen souveräner Nationalstaaten werden. Frieden wird nur möglich sein, wenn eine jede Nation ihr Potential auf die beste Weise entwickeln kann, und sie es als ihr eigenes Interesse ansieht, daß auch allen anderen dieses ermöglicht wird. Das Ziel des Dialoges ist nicht, ein Dogma festzulegen, wer recht hat, oder wer besser ist, sondern die universelle Wissenschaft des Entwicklungspotentials der Menschheit zu studieren, und alleine durch diesen Dialog werden seine Teilnehmer schon zu besseren Menschen werden.

In der indischen Philosophie besagt der Begriff des "nivrtti", daß der Mensch sein inneres Wesen tiefer erfassen und seine Identität jenseits des Egos der Sinne in seinem größeren Selbst finden soll; dies kommt der Idee des Erhabenen sehr nahe. Die Ausbildung des "nivrtti" entspricht ungefähr der Ausbildung des "Empfindungsvermögens".

Die Beschäftigung mit diesen Konzepten ist keine akademische Frage. Um auf den Anfang meiner Ausführungen zurückzukommen: Wir stehen vor existentiellen Umbrüchen, und es gibt keinen Weg, wie die alte Weltordnung bestehen bleiben wird. Wie recht Schiller hatte, wenn er immer wieder auf die Wirksamkeit der Nemesis in der Geschichte hingewiesen hat, wird nirgendwo klarer als an der heutigen Situation im Irak. Ein Krieg, der vollkommen auf Lügen aufgebaut war, der jedes Völkerrecht verletzt hat, ist jetzt dabei, zur Nemesis für seine Anstifter zu werden. Aber leider wird die Gefahr für den Weltfrieden damit nicht geringer, sondern sie steigt dramatisch.

Nur wenn sich in dieser Lage - in der tektonische Bewegungen die alte Weltordnung unter sich begraben und entweder Chaos hinterlassen oder Raum für eine neue Weltordnung schaffen - genügend Männer und Frauen, politische Führer und Staatsmänner finden, die ihre Identität auf der Ebene des Erhabenen finden, kann aus der Krise eine Chance werden.

Es ist meine feste Überzeugung: Wenn wir jetzt in dieser tiefen Krise die besten Traditionen aller Kulturen dieser Welt vor allem in den Jugendlichen unserer Nationen lebendig werden lassen, und wenn wir nicht nur in allernächster Zukunft eine gerechte neue Weltwirtschaftsordnung errichten, sondern diese mit einem solchen Dialog der Kulturen verbinden, wird eine reichere Renaissance als je zuvor das Ergebnis sein.


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