November 2004: |
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Viele Leute zweifeln daran, daß die Menschheit sich heute in einer existentiellen Krise befindet. Aber ich glaube, die meisten unter Ihnen werden mir zustimmen: die Wiederwahl Bushs stellt eine Katastrophe für die Welt dar. Und wenn man die jüngsten Entwicklungen im Irak verfolgt, wo Schrecklichkeit herrscht, dann kann man sich schon vorstellen, daß die Menschen Furcht haben. Ähnlich ist es bei der wirtschaftlichen Lage: Arbeitslosigkeit, Ungewißheit, Furcht. Und normalerweise führt Furcht dazu, daß sich die Menschen klein fühlen.
Niemand hat darüber mehr geschrieben als Friedrich Schiller, der in seinen Schriften zum Erhabenen diese Frage behandelt hat, wie der Mensch die Furcht, die ihn zum Sklaven macht und seiner Freiheit beraubt, überwinden kann.
Das ist nicht so einfach, weil die Wege zu Schiller uns heute etwas verschüttet sind. Aber erinnern Sie sich daran, wie Schiller mit einer ähnlichen Katastrophe in seiner Zeit, nämlich der Französischen Revolution, die von seinem Standpunkt aus gescheitert war, umging. Der jakobinische Terror machte die Hoffnung zunichte, daß so etwas wie die Amerikanische Revolution in Europa wiederholt werden könnte, und als dann unter der Schreckensherrschaft die Jakobiner massenhaft die Köpfe rollen ließen, war Schiller entsetzt. Und er war auch entsetzt darüber, daß Napoleon sich zum Weltherrscher aufschwingen wollte.
Schiller hat sich dann besonders in den Briefen an den dänischen Prinzen Friedrich Christian von Augustenburg - in den "Ästhetischen Briefen" - mit der Frage auseinandergesetzt, wie es passieren konnte, daß aus der Französischen Revolution eben keine Amerikanische Revolution wurde. Er faßte dies in den berühmten Satz: "Ein großer Augenblick hat ein kleines Geschlecht gefunden". Die objektive Möglichkeit der Veränderung war gegeben, aber die subjektive, moralische Möglichkeit hat gefehlt.
Schiller hat sich sein ganzes Leben lang mit der Frage beschäftigt, wie man diese "kleinen Leute" in große Menschen, in welthistorische Individuen verwandelt. Er hat sich dazu mit universalgeschichtlichen Fragen beschäftigt, denn nur der Mensch, der sein fliehendes Dasein an die lange Kette der Menschen der verschiedenen Generationen in der Menschheitsgeschichte knüpft, kann über seine Grenze, seine Identität als sterblicher Mensch, hinausgelangen und teilhaben an der Unsterblichkeit.
Er hat sich mit den großen historischen Dramen beschäftigt, um normale Menschen an die großen Gegenstände der Menschheit heranzuführen, damit dem einfachen Bäcker, dem einfachen Handwerker, wenn er sich mit den Königen, den Personen auf der Bühne identifiziert, die Probleme klar werden: "Was würdest du tun, wenn es von deinem Leben und deinem Einsatz abhängen würde, was mit deiner Nation geschieht, und mit der menschlichen Gesellschaft, auf Generationen hin?"
Schiller sagte, jeder Mensch trage einen idealischen Menschen in sich, und es sei die große Bestimmung seiner Existenz, den Menschen in der Zeit, in der Realität, mit diesem idealischen Menschen in Übereinstimmung zu bringen.
Das war Schillers Vision, das war die Idee der Weimarer Klassik. Man dachte damals, das Zeitalter der Vernunft wäre ganz nah; aber, wie Sie wissen, kam es dann zu einigen unschönen Entwicklungen: Der Wiener Kongreß machte die Hoffnung auf eine verfassungsmäßige Einheit Deutschlands zunichte, und mit den Karlsbader Beschlüssen wurde Schiller verboten, so daß die Studenten damals Schiller im Untergrund lesen mußten. Es war nicht die einzige Zeit, in der Schiller verboten war.
Man kann sich eigentlich sicher sein: Ein Maßstab für die moralische Qualität der deutschen Gesellschaft war immer, in welchem Ansehen Schiller stand. Im Dritten Reich hat Goebbels den Wilhelm Tell, von dem Sie heute Abend viel hören werden, verboten, weil man befürchtete, daß die Menschen darin eine Anleitung zum Tyrannenmord sehen könnten.
In der Nachkriegszeit, in der sich viele Menschen Schiller und anderen großen europäischen Denkern zuwandten, traten auch Probleme auf. Mit der Besatzungszeit kam auch die Frankfurter Schule, die Schiller nicht freundlich gegenüberstand - Adorno hat ihn als Faschisten bezeichnet - , und es setzte die bildungspolitische und kulturelle Kriegsführung des Kongresses für kulturelle Freiheit ein, die sich im Nachhinein als eine CIA-Operation gegen Europa entlarvt hat, und es kam das Regietheater.
Hans Neuenfels, ein Mitbegründer des Regietheaters, verteilte 1968 Flugblätter, in denen gefordert wurde: Reißt den Trierer Dom nieder! Erschlagt die Großmutter! Seither haben sich in zahllosen Schiller-Inszenierungen die Schauspieler nackt ausgezogen, und wenn das zum 547. Mal passiert, verliert es irgendwie an Originalität. Derselbe Hans Neuenfels schreibt heute in der Welt am Sonntag, das Publikum sei schon so gewöhnt an diese Sachen, daß man eigentlich gar nichts mehr machen könne, was sie noch irgendwie aufrege.
Wir haben also ein Problem mit Schiller. In gewisser Weise müssen wir zu Schiller zurückkehren, und das geschieht am besten, indem man Schiller selber liest. Wir müssen vor allen Dingen dafür sorgen, daß sich junge Menschen wieder mit Schiller beschäftigen. Ich habe eine gute Nachricht: Unsere mit dem Schiller-Institut verbundene Jugendbewegung, besonders in Amerika, ist ganz begeistert von Schiller. Sie sagen, "das fetzt" oder "das ist cool" und führen Don Carlos auf - in englischer Sprache!
Aber auch in Deutschland und Schweden beginnen ähnliche Entwicklungen, und das nährt die Hoffnung, daß gerade die jungen Leute sich wieder mit diesen Gedanken beschäftigen, weil, wie ich schon gesagt habe, die Auseinandersetzung mit der Klassik für uns vom Schiller-Institut mehr als nur Unterhaltung oder Kulturarbeit bedeutet, die mal so nebenher am Sonntag geschieht, sondern die Wurzel unserer Identität darstellt. Sie ist das, was uns als Menschen wirklich frei macht.
Schiller hat in den beiden wunderbaren Schriften zum Erhabenen geschrieben: Wenn der Mensch nur Sinnenwesen ist, dann ist er furchtsam, weil seine physische Existenz von vielen Dingen bedroht sein kann. Aber wenn der Mensch lernt, seine Identität auf die Ebene des Erhabenen zu verlagern, dann ist er frei - nicht weil er physisch sicher ist, das ist natürlich für sterbliche Menschen nie zu erreichen - , sondern weil er moralische Sicherheit gewinnt. Darum ist Schiller besonders in einer so schweren Zeit wie der heutigen wirklich sehr, sehr wichtig.
Und deshalb fordere ich Sie von ganzem Herzen auf: Wenn Sie jetzt über Wilhelm Tell hören - das Stück handelt von Widerstand gegen die Tyrannei, und das Schiller-Institut ist in gewisser Weise auch eine Widerstandsbewegung - , und wenn Ihnen die Ideen, die wir vertreten, vertraut vorkommen, dann machen Sie bei uns mit!
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