Oktober 2004:
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Nur mit produktivem Wirtschaftswachstum kann der Sozialstaat verteidigt werden!

Michael Weißbach bei einer Kundgebung

Michael Weißbach, Landesvorsitzender der BüSo Hessen, schreibt an die im Bündnis "Soziale Gerechtigkeit in Hessen" zusammengeschlossenen Sozialverbände



Das Bündnis "Soziale Gerechtigkeit in Hessen" hatte im September eine Hessische Sozialcharta verabschiedet, mit der ein Beitrag zur Diskussion über die Weiterentwicklung des Sozialstaates geleistet werden sollte. Anlaß zu diesem Schritt waren die Entscheidungen der hessischen Landesregierung, unter dem wohlklingenden Motto "Operation sichere Zukunft" weitreichende, drastische Einschnitte in das soziale Netz in Hessen durchzuführen. Damit wird auf der Ebene des Landes Hessen die Politik der "Agenda 2010" und "Hartz IV" fortgesetzt, mit der die rot-grüne Bundesregierung den größten sozialen Kahlschlag seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland begonnen hat. Gegen diese Politik hatte die BüSo mit dem Aufruf der Vorsitzenden Helga Zepp-LaRouche vom 17. Juli 2004 in Leipzig und dann in anderen Städten Sachsens den Prozeß der Montagsdemonstrationen ausgelöst.

Sinn und Ziel der von uns damals begonnen Protestaktionen war es nicht nur, die berechtigte Sorge und Verärgerung über die ungerechte und im Kern selbstzerstörerische Hartz-IV-Politik in die öffentliche Debatte zu bringen, sondern auch eine dringend notwendige neue Wirtschaftspolitik zu formulieren und umzusetzen.

Ihrer Aufforderung [der Aufforderung des Bündnisses, d.Red.] zur Diskussion über die Weiterentwicklung des Sozialstaates kommen wir gerne nach. Wir wollen uns auf den entscheidenden Punkt konzentrieren, an dem Ihre Sozialcharta dringend ergänzt und überarbeitet werden muß, wenn Sie dazu beitragen wollen, den Sozialstaat zu verteidigen.

Die hessische Sozialcharta läßt leider völlig außer acht, daß der Sozialstaat, so wie er sich nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt, als auch im Land Hessen zu neuer Blüte hat entwickeln können, ein fundamentaler Bestandteil der wirtschaftlich-industriellen Entwicklung der Nachkriegsjahrzehnte war. Die Entwicklung des Landes Hessen unter den ersten Ministerpräsidenten Geiler, Stock und dann vor allem Georg August Zinn basierte auf dem Verständnis, daß der Sozialstaat und die Demokratie ohne die Entwicklung der Industriegesellschaft nicht entstehen kann.

Es lohnt sich durchaus, für einen Moment die Herausforderungen zu überdenken, die sich nach dem völligen geistig-psychologischen, kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenbruch Deutschlands nach Ende des Krieges stellten. Die Städte waren weitgehend zerstört, die Ernährungslage der Bevölkerung katastrophal, die Verfügbarkeit wichtiger Rohstoffe für die aufzubauende Wirtschaft alles andere als sicher. Ein Großteil der Menschen war durch Krieg, Gefangenschaft oder Vertreibung und Flucht in soziale Not geraten. Es galt, im Laufe der Jahre über eine Million Menschen, Heimatvertriebene und Flüchtlinge aus dem Osten und Mitteldeutschland, in den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufbauprozeß zu integrieren. Daß dies gelänge, war am Anfang keinesfalls sicher.

Daß die Herausforderungen dennoch recht erfolgreich bestanden wurden, lag an dem gesellschaftlichen Konsens in Hessen, das Land zu einem modernen Industrie- und Sozialstaat aufzubauen. Orientierung war das Prinzip des Gemeinwohls, wie es ausdrücklich im Artikel 38 der hessischen Verfassung formuliert war:

"Die Wirtschaft des Landes hat die Aufgabe, dem Wohle des ganzen Volkes und der Befriedigung seines Bedarfs zu dienen. Zu diesem Zweck hat das Gesetz die Maßnahmen anzuordnen, die erforderlich sind, um die Erzeugung, Herstellung und Verteilung sinnvoll zu lenken und jedermann einen gerechten Anteil an dem wirtschaftlichen Ergebnis aller Arbeit zu sichern und ihn vor Ausbeutung zu schützen."

Klarer kann eine Absage an neoliberale Wirtschaftsvorstellungen, die heute die Grundlage zur Rechtfertigung der Zerschlagung des Sozialstaates liefern, kaum formuliert werden. Übrigens klingt diese Verpflichtung zur sozialen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik in allen anderen Artikeln der hessischen Verfassung des ersten Hauptteils unter "soziale und wirtschaftliche Rechte und Pflichten" an.

Georg August Zinn war nicht nur einer der Verfassungsväter der bundesdeutschen und hessischen Verfassung, sondern er setzte in Hessen in den fast 20 Jahren seiner Amtszeit von 1950 bis 1969 auch die in ihr festgelegten Prinzipien in der Wirtschafts- und Sozialpolitik um. Die menschliche Arbeitskraft zu entwickeln und den Aufbauwillen aller produktiven gesellschaftlichen Kräfte zum Einsatz zu bringen war der Kern seines Erfolges. Er hatte zu Beginn seiner Amtszeit das Ziel, Hessen zum Bundesland mit der besten wirtschaftlichen und sozialen Infrastruktur zu machen. An diesem Ziel hat er beharrlich und unter Einsatz klarer dirigistischer Maßnahmen gearbeitet. Die Hessenpläne zur Landesentwicklung lieferten dabei die Grundlage.

Die sozialstaatlichen Errungenschaften in Deutschland und Hessen fielen also nicht vom Himmel. Sie wurden erwirtschaftet. Es sei nur kurz daran erinnert, daß das Land Hessen zum Beispiel in den Jahren zwischen 1953 und 1961 ein Wirtschaftswachstum von 130 Prozent erzielen konnte. Das war das Fundament, auf dem die Einrichtungen des Sozialstaates standen.

Von einem Verständnis dieses einfachen, aber wesentlichen Zusammenhangs ist in Ihrer Sozialcharta mit keinem Wort die Rede. Zwar fordern Sie Investitionen in Bildung, in die soziale Sicherheit und Infrastruktur, Sie klagen das Menschenrecht auf Arbeit ein, und sagen dann lediglich, daß dazu eine Umverteilung von Arbeit notwendig ist. Doch die Wirtschaft ist kein endlicher Kuchen, kein Gleichgewichtszustand oder Nullwachstum. Wirtschaft ist immer und in jeder Phase ein organischer Prozeß mit realen physischen Veränderungen, die durch menschliches, möglichst und potentiell willentliches Handeln hervorgerufen werden.

In den letzten Jahrzehnten hat die Globalisierung mit ihrer unglaublichen und historisch einmaligen Aufblähung fiktiver Finanztitel die größte Deindustrialisierung auch im Bundesland Hessen ausgelöst. Es ist diese Tendenz der Zerstörung realwirtschaftlicher Potentiale, die jetzt auch die Zerstörung des Sozialstaates bedingt. Wenn wir die sich jetzt weltweit dramatisch verschärfende Wirtschafts- und Finanzkrise überwinden wollen, müssen die Prinzipien der Aufbaupolitik der Nachkriegsjahre wieder zur Geltung kommen.

Deutschland braucht acht Millionen neuer Arbeitsplätze gegen die größte Unterbeschäftigung seit der Endphase der Weimarer Republik. Diese Arbeitsplätze sollten dem Anspruch des Artikels 33 der hessischen Verfassung gerecht werden. Dort heißt es:

"Das Arbeitsentgelt muß der Leistung entsprechen und zum Lebensbedarf für den Arbeitenden und seine Unterhaltsberechtigten ausreichen."

Ein solches Ziel kann nur durch große staatlich geförderte Investitionsprogramme in grundlegende Bereiche der Infrastruktur erreicht werden.

Die BüSo und ihre Vorsitzende Helga Zepp-LaRouche haben die notwendige Neuorientierung der Wirtschaftspolitik in ihrem "Manifest für die Montagsdemonstrationen" formuliert. Der Plan für die Schaffung und Finanzierung von 8 Millionen Arbeitsplätzen ist in dem Arbeitspapier von Lothar Komp ausgearbeitet worden. Beide Dokumente sind im Internet auf den Seiten http://www.bueso.de/ und www.solidaritaet.com/neuesol/forum.htm abrufbar.

Wir möchten Sie, die Vertreter der Sozialverbände im "Bündnis soziale Gerechtigkeit in Hessen", einladen und auffordern, die Debatte um die Neuorientierung der Wirtschaftspolitik in Deutschland und Hessen mit uns zu führen und weiterzutragen. Denn von dem schnellstmöglichen Ausstieg aus der Globalisierung und von der Schaffung einer neuen, gerechten Weltwirtschaftsordnung wird es abhängen, ob wir diesmal Faschismus und Krieg verhindern können.


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