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Der hessische Ministerpräsident Roland Koch besuchte vom 29. Juli bis zum 2. August die USA anläßlich des 25jährigen Bestehens der Partnerschaft Hessen-Wisconsin. Das Jubiläum wurde jedoch überschattet von dem Kuckucksei, das Koch mit nach Hause brachte: Sein Vorschlag, das "Wisconsin-Modell" der Umstellung von Sozialhilfe auf "innovative Sozialpolitik" in der Bundesrepublik zu übernehmen. Das seit 1997 praktizierte Modell ersetzt traditionelle Sozialhilfeleistungen durch den Zwang für Bedürftige, Arbeit bis zu 30 Stunden wöchentlich als Vorbedingung für Unterstützungsleistungen anzunehmen. Weitere zehn Stunden sind für Ausbildungsmaßnahmen vorgesehen.
Das durchschnittliche "Einkommen" liegt trotz allem nicht über700 Dollar, und wer nicht mitmacht, erhält gar nichts. Das Gesamtprogramm gilt für maximal fünf Jahre Laufzeit, danach verliert der Teilnehmer jeglichen Anspruch auf öffentliche Sozialhilfe, auch wenn er dann ohne Arbeit ist. Das Modell mit dem Namen "Wisconsin W-2", das in den USA selbst heftig umstritten ist, wurde Koch in Wisconsin von der dortigen Sozialministerin Jennifer Reichert erläutert.
Die Verbindung von Arbeitspflicht und Sozialleistungen gibt es in eingeschränkter Form auch in Deutschland, oft in der Form von "Zuverdiensten bei öffentlichen Arbeiten" mit Niedrigstlöhnen von 3 DM pro Stunde. Und ähnlich wie in den USA sträuben sich Gewerkschaften gegen dieses Lohnsenkungsmodell, das in der Regel öffentliche Arbeiten anbietet, die von privaten oder aus den kommunalen Verwaltungen ausgelagerten Firmen ausgeführt werden. Das Modell kritisieren auch kirchliche und andere soziale Verbände, weil es das Problem der Bedürftigkeit zu einem lästigen Störfaktor erklärt und eine grundsätzliche Verpflichtung der Gesellschaft zum Gemeinwohl verneint. Die Tatsache, daß Kinder sowie pflegebedürftige Ältere und chronisch Kranke einen großen Teil der sozialhilfeabhängigen Bedürftigen ausmachen, wird von den Modellverfechtern mit dem vereinfachenden Leitsatz "wer Hilfe bezieht, soll dafür auch arbeiten" ausgeklammert. Nicht der Schutz des Gemeinwohls für Bedürftige, sondern deren wirtschaftlicher Nutzen rückt damit in den Mittelpunkt der "innovativen Sozialpolitik".
Dabei ist das gerade in Zeiten der öffentlichen Haushaltskürzungen für so manchen attraktive Argument, Sozialhilfe als Kostenfaktor entweder sichtbar zu senken oder ganz zu eliminieren, nicht haltbar. Wisconsin konnte sein Programm bisher nur durchführen, weil es seit 1997 Bundeszuschüsse in Höhe von 700 Millionen Dollar erhalten hat. Wisconsin wurde Pilotprojekt für "innovative Sozialpolitik" auch nicht aus Gründen der Kostenersparnis, sondern aus ideologischen Erwägungen. Maßgeblich beteiligt am Start des Projekts waren der jetzige amerikanische Gesundheitsminister Tommy Thompson, der 1997 Gouverneur von Wisconsin war, und der jetzige Justizminister John Ashcroft, damals Senator im Kongreß. Der Republikaner Ashcroft war wesentlich beteiligt an der Formulierung des Sozialhilfereformgesetzes von 1996, bei dem auf demokratischer Seite der damalige Vizepräsident Al Gore eine treibende Kraft war.
Für den radikaleren Teil der Reformverfechter um Ashcroft und Thompson stand nicht das Kosteneinsparargument im Zentrum der Reform, obwohl das Argument natürlich gemacht wurde. Im Zentrum stand vielmehr die Absicht, das vom Präsidenten Franklin Roosevelt im Kampf gegen die Auswirkungen der verheerenden Wirtschaftskrise in den 30er Jahren begründete amerikanische Sozialhilfesystem wieder zu demontieren, um eine unregulierte Marktwirtschaft und einen weitmöglichst reduzierten Staatsapparat durchzusetzen. Diese von jeglichem "sozialen Ballast" befreite neoliberale Ideologie wird am ungeschminktesten dargestellt von Stiftungen wie der Bradley Foundation oder der (von Koch zum Abschluß seiner USA-Reise besuchten) Heritage Foundation, die überdies noch grotesk-fundamentalistische Varianten der Religiosität propagieren.
Von hier kommt nicht nur die Idee, daß rechtlich abgesicherte staatliche Leistungen durch freiwillige Unterstützungsleistungen kirchlicher und anderer Vereinigungen ersetzt werden sollen; es finden sich auch alttestamentarische Vorstellungen von Strafe, Rache, gnadenloser Härte usw. Es überrascht also nicht, daß der erwähnte Ashcroft knallharter Verfechter der Todesstrafe ist und daß aus diesen Kreisen massive politische und andere Unterstützung für den derzeitigen Kurs der Regierung Scharon in Israel kommt. Zwar treten diese Kreise gerne als "auf den Glauben gestützt" (faith-based) auf und nennen ihre politischen Projekte auch so, aber mit den christlichen Kernprinzipien des Gemeinwohls und der Milde haben sie überhaupt nichts zu tun.
"Faith-based" ist ein Etikettenschwindel, der sich übrigens auch im Werdegang eines Hauptideologen dieser fundamentalistischen Bewegung wiederfindet: Michael Joyce, der neue Chefberater des von Gesundheitsminister Thompson geführten Büros für im Glauben begründete Initiativen, Gesundheits- und Pflegedienste (HHS). Joyce, ein Mitautor sowohl des Wohlfahrtsreformgesetzes von 1996 als auch des Wisconsin-Modells von 1997, ist Thompson schon seit Jahren verbunden. Interessanterweise entdeckte Joyce seinen synthetischen "Glauben" 1973, als er noch aktives Mitglied der Kommunistischen Partei der USA war. Vom KP-Mitglied wandelte sich Joyce innerhalb kurzer Zeit zum "Theo-Konservativen", der mit Hilfe der Förderung durch prominente Konservative wie Irving Kristol und William Simon 1980 Vorsitzender der konservativen Olin-Stiftung wurde. 1985 übernahm er den Vorsitz der Bradley Foundation, 1989-1991 arbeitete er in der Heritage Foundation, und 1992 veröffentlichte er sein Buch Die Tragödie der amerikanischen Leidenschaft, das ihn bald ebenso bekannt machte wie Marvin Olasky, den anderen wichtigen Vordenker von Bushs Populismusvariante des "leidenschaftlichem Konservativismus".
Kurz nach Bushs Einzug ins Weiße Haus Anfang 2001 wurde Joyce maßgeblicher Koordinator der Zahlungen von Regierungszuschüssen an die zahlreichen konservativen und fundamentalistischen Sekten und Vereine, denen Bush einen großen Teil seiner Wählerstimmen verdankt. Neben Joyce und Olasky kann man unter den Hauptideologen noch Robert Rector, den Sozialstaatsexperten der Heritage Foundation, nennen, der sogar der Ansicht ist, das Modell Wisconsin verschwende noch zu viel Zeit mit Umschulungen und halte die Teilnehmer unnötig lange in staatlichen Förderprogrammen fest. Je schneller man die Leute auf den freien Markt werfe, desto besser, meint Rector.
Was Roland Koch und seine jüngsten amerikanischen Eindrücke betrifft, so liegt der Hauptgrund für die angebliche Attraktivität des "Wisconsin-Modells" wohl darin, daß die neue CDU, die mit der Ära Kohl auch den Rest der alten CDU abgeworfen hat, verzweifelt nach etwas sucht, mit dem sie Schröders Rot-Grüne bei künftigen Wahlen ausstechen kann. Da Schröder das neoliberale Terrain wirtschafts- und haushaltspolitisch bereits besetzt hält, sehen manche Christdemokraten ihre "Alternative" in dem religiös verbrämten Konservativismus amerikanischer Prägung, der schon den Präsidentschaftskandidaten Bush - nicht ohne Geburtshilfe seitens theo-konservativer Bundesrichter allerdings - ins Weiße Haus gebracht hat.
Die Bundesrepublik hat aber im sozialstaatlichen Bereich eine andere Tradition, sie hat das Wuchern großer Armutsgebiete wie in den USA bisher verhindert und erfüllt trotz tiefer finanzieller Einschnitte der letzten Jahre noch ihre Gemeinwohlaufgaben. Die Flut von Kritik und Protesten - vom Städtetag und den kommunalen Sozialdiensten über den Paritätischen Wohlfahrtsverband bis zu den Gewerkschaften - nach Kochs Äußerungen zeigt, daß die neue CDU mit solchen Modellen ins Fettnäpfchen tritt. Ob die CDU mit solchem Populismus Punkte gegen die SPD machen und Wähler gewinnen kann, ist fraglich. Und es ist ebenso fraglich, ob ein (sich gerade hochkämpfender) Koch an der Spitze besser für die CDU besser wäre als Angela Merkel. Von einer klassischen Christdemokratie, die sich der Sozialen Marktwirtschaft verpflichtet fühlte, hätte die neoliberale SPD programmatisch und politisch eher etwas zu fürchten.
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