Dezember 2003: |
Pfad: |
Die Kritik an der unseligen Sparpolitik Roland Kochs brachte Zehntausende in der Landeshauptstadt zu einer Großdemonstration zusammen. Die BüSo-Vorsitzende Helga Zepp-LaRouche mahnte in einem Flugblatt eine radikale wirtschaftspolitische Kurskorrektur an. Michael Weißbach berichtet.
Im Bild der Sammelpunkt auf dem Elsässer Platz in Wiesbaden, wo auch eine dezentrale Kundgebung stattfand.
Es war ein außergewöhnlicher Tag für die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden, dieser 18. November 2003: Seit 22 Jahren waren nicht mehr so viele Menschen zu einer Demonstration in der hessischen Landeshauptstadt zusammengekommen. 45 000 Menschen waren dem Aufruf des hessischen Gewerkschaftsbundes, der Studentenvertretungen an den hessischen Hochschulen und des Bündnisses für soziale Gerechtigkeit in Hessen gefolgt. Unter dem Motto "Tag der Verweigerung - Sparen schafft Armut - Gegen den sozialen Kahlschlag in Hessen!" hatten sich nicht nur in Wiesbaden Menschen zu diesem Massenprotest versammelt. In ganz Hessen hatten viele Schulen zumindest stundenweise den Unterricht unterbrochen oder waren soziale Einrichtungen geschlossen geblieben. An vielen hessischen Hochschulen wurde schon in den letzten Wochen gestreikt.
In dem Demonstrationszug, der sich vom Hauptbahnhof zum Luisenplatz und von dort zum nicht weit vom Sitz des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch entfernten Schloßplatz bewegte, waren die Studenten eindeutig in der Mehrheit. Von ihnen kamen die originellsten Plakate mit Aufschriften wie "Kein Platz in Hessen für Dichter und Denker", "Fordert unseren Geist, nicht unser Geld", "Bildung in Hesse, kannste vergesse!" Lautstark machten sie ihrem Ärger über die geplanten Studiengebühren Luft.
Nicht zu übersehen waren auch die starken Vertretungen der Polizeibeamten, der Freiwilligen Feuerwehren und der Forstbeamten. Bei der hessischen Forstverwaltung soll es drastische Einsparungen geben. "Wenn euch 40 Forstämter in Hessen reichen, dann reichen uns auch 40 Landtagsabgeordnete", war auf einem Plakat zu lesen. Damit wurde darauf aufmerksam gemacht, daß die Zahl der hessischen Forstämter und die Zahl der Waldarbeiter in Hessen halbiert werden soll.
Das andere große Kontingent der Demonstration waren die Vertreter sozialer Einrichtungen. Bis zu 50% der nichtgesetzlichen Sozialleistungen des Landes sind von Einsparungen betroffen: Schuldnerberatung, Beratungsangebote für Ausländer, Sprachkurse, Hilfsangebote für Jugendliche, Schüler, Frauen und Familien sowie Projekte in den sozialen Brennpunkten hessischer Städte. Die Gewerkschaften, allen voran die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, wandten sich gegen die vorgesehene Erhöhung der Wochenarbeitszeit, die Kürzung und Streichung von Weihnachts- und Urlaubsgeldern und bei den Tarifen und sozialen Sicherungssystemen.
Die beiden Hauptredner der Kundgebung ließen keinen Zweifel an den katastrophalen Konsequenzen der Sparpolitik. Der Vorsitzende des hessischen DGB Stefan Körzell appellierte an die hessische Landesregierung: "Hier demonstrieren keine Blockierer oder Sozialromantiker, sondern hier macht sich das soziale Gewissen des Bundeslands Hessen bemerkbar ..." Die Rede wurde immer wieder von Sprechchören "Koch muß weg!" unterbrochen. 15 000 Arbeitsplätze, so warnte Körzell, gingen im Land Hessen durch die Sparmaßnahmen in allernächster Zukunft verloren. Die Gewerkschaften hätten sehr wohl eigene Alternativvorschläge gemacht, erkennbar war allerdings nur die Forderung nach Einführung der Vermögenssteuer.
Die Rede des zweiten Sprechers, Dr. Gern von der Liga der Freien Wohlfahrtsverbände, war im Kern ein leidenschaftlicher Appell für die Idee des Gemeinwohlprinzips und gipfelte in dem Satz: "Der Sozialstaat ist eine zivilisatorische Errungenschaft, die wir mit allen verfügbaren Kräften verteidigen müssen." Er forderte einen Sozialgipfel, auf dem Alternativen zu der gegenwärtigen Sparpolitik ausgearbeitet werden sollen. Er deutete wenigstens an, daß die neoliberale Wirtschaftsideologie diese Krise heraufbeschworen habe; aus einer "Werte-Gesellschaft" sei eine "Wert-Papier-Gesellschaft" geworden.
Die Großdemonstration in Wiesbaden hat deutlich gemacht, daß es auch in Hessen ein starkes Ferment gegen soziale Ungerechtigkeit und den Widersinn der Sparbarei gibt. Doch sie hat auch aufgedeckt, daß der 68er Generation allein eine Überwindung der Krise nicht zugetraut werden kann. Denn nicht im Ansatz war irgendwo auf den Flugblättern der Organisatoren oder in den Reden zu erkennen, daß die Ursachen der Krise und ihr wirkliches Ausmaß verstanden werden. Weder Koch noch Schröder wollen wahrhaben, daß wir es mit einer Systemkrise, einer neuen Weltwirtschaftskrise wie 1929-31 zu tun haben. Und sie haben jegliche emotionale und intellektuelle Bindung an den Sozialstaat als notwendige Komponente des industriellen und technologischen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg verloren.
Der Sozialstaat wird ja gerade deshalb auch in Hessen zur Disposition gestellt, weil das industrielle und produktive Fundament, auf dem er in den Regierungsjahren des vergleichsweise großen Georg August Zinn bis 1970 gebaut war, immer mehr zerbröckelt und der "Shareholder Value"-Mentalität geopfert wird. Die Menschen und Organisationen, die am Erhalt und Ausbau des Sozialstaates interessiert sind, müssen also umdenken.
Genau dieses Umdenken zu bewirken, war das Ziel der Intervention der Bürgerrechtsbewegung Solidarität und der LaRouche-Jugendbewegung in die Kundgebung vom letzten Dienstag. Innerhalb kurzer Zeit wurden 10 000 Flugblätter "Deutschland braucht auch eine Deng'sche Reform!" an die Demonstranten verteilt. Während der Demonstration war die Zeit zur Diskussion mit den Menschen zu kurz. Aber wir dürfen gespannt sein, wie die Reaktionen in den nächsten Wochen ausfallen werden, vor allem, wenn die China-Reise des Bundeskanzlers und seiner Delegation erfolgreich verlaufen sollte.
Zurück zur Politik-Hauptseite: